Der Drachen mit seinen immer neuen Köpfen ist tot

■ Mit dem Regierungswechsel vollzieht sich die Auflösung der seit 1955 regierenden LDP

„Das Geld“, ätzte der japanische Kulturphilosoph Shuichi Kato, „paralysiert alle moralischen Sinne. Die aber durch Geld zur Macht gekommen sind, regieren heute das Land. Oft sind es Außenseiter, Leute ohne Kultur mit brutalem Durchsetzungsvermögen. Weder Gesetz noch öffentliche Moral hindern sie an ihrem Bestechungsregiment.“ Diese Zustandsbeschreibung des Schriftstellers Kato, der seit Anfang der sechziger Jahre zu Japans prominentesten Regierungskritikern zählt, ist kaum ein Jahr alt. Vermutlich würde der 72jährige Kato seine Worte heute nicht um ein Komma ändern. Schließlich haftet auch Japans neuen Regenten der marode Duft alter Skandale an. Doch das Ableben der japanischen Regierungspartei, dieses allmächtigen Drachens mit seinen immer neuen Köpfen, den Kato sein Leben lang bekämpft hatte, hatte der Philosoph noch vor einem Jahr ausgeschlossen. Kein Hellseher widersprach seinerzeit. Doch so sicher wie der Sturz der Berliner Mauer das Ende von SED und KPdSU einläutete, so untrennbar ist mit dem Regierungswechsel in Japan die Auflösung und eventuelle Neuorganisation der Liberaldemokratischen Partei (LDP) verbunden.

Nach den Parteispaltungen im Juni, die zur Gründung von zwei neuen Oppositionsparteien führte, wird die LDP am Freitag erstmals seit ihrer Gründung 1955 einen Vorsitzenden wählen, der nicht automatisch Premier wird. Von den beiden Kandidaten, die für das höchste politische Amt ins Rennen gehen, ist der eine, Ex-Außenminister Watanabe, ein schwerkranker Herzpatient, und der andere, Regierungssprecher Yohei Kono, ein Parteiaußenseiter.

Der LDP aber sind nicht nur die Personen, sondern auch das Programm abhanden gekommen. Stand die Partei ursprünglich für Wirtschaftswachstum, koste es, was es wolle, verhindert ihre traditionielle Klientelwirtschaft in Bauindustrie, Landwirtschaft und Einzelwarenhandel heute die Deregulierung des japanischen Binnenmarkts für neue Wachstumsbranchen. Obwohl das Unternehmerlager der LDP bis zum Schluß treu blieb und für den Wahlkampf der Partei erneut annähernd 350 Millionen Mark zur Verfügung stellte, waren es nicht mehr die objektiven Interessen, sondern persönliche Verpflichtungen und die Korruption, die Konzernbosse und LDP- Politiker zusammenhielten. Auch industriepolitisch hatte die LDP deshalb abgewirtschaftet.

„Die LDP ist am Ende“, resümiert Minoru Morita. Der angesehene Politologe konservativer Schule war jahrelang ein treuer Wegbegleiter der Liberaldemokraten. „Die LDP-Politiker haben die Kontrolle über sich und Japan verloren“, sagt Morita und ärgert sich. Denn erst die letzten Tage brachten die Entscheidung.

Noch am Montag nach der Wahl vom 18. Juli war vielen der Regierungswechsel unmöglich erschienen. „Japan bleibt Japan“, titelte die Neue Zürcher Zeitung und bestätigte damit auch den ersten Eindruck der japanischen Regierungspolitiker — die LDP hatte dreimal mehr Mandate als die größte Oppositionspartei gewonnen. Premierminister Kiichi Miyazawa, der seinen Rücktritt bereits angekündigt hatte, wollte davon zunächst nichts mehr wissen. Business as usual, lautete die Wahlanalyse im LDP-Hauptquartier. Eine groteske Fehleinschätzung, wie sich noch herausstellen sollte.

„Unsere Partei nennt sich liberal, ist es aber nicht“

In aller Ruhe glaubten die Liberaldemokraten die parteiinternen Machtverhältnisse neu bestimmen zu können. An keine der Oppositionsparteien erging ein Koalitionsangebot, obwohl die LDP nicht mehr über die absolute Mehrheit verfügte. Erst vier Tage nach der wahl trat Miyazawa unter dem Druck seiner Konkurrenten zurück. Noch am selben Tag wollte die Parteispitze die Nachfolge wie gewohnt informell und unter sich ausmachen. Zur Absegnung ihres Vorgehens rief sie eine öffentliche Vollversammlung ihrer Abgeordneten zusammen. Nun folgte die Offenbarung – die zweite Meuterei innerhalb der Regierungspartei, die sich bereits im Juni einmal gespalten hatte, konnte die Nation am Bildschirm mitverfolgen.

„Ich betrachte Premierminister Miyazawa als Kriegsverbrecher der C-Klasse“, schlug da der populäre LDP-Rebell Seiichi Ohta — in Anlehnung an die Bezeichnung für weniger schwere Kriegsverbrecher nach dem Zweiten Weltkrieg — seiner Parteiführung um die Ohren. „Ich fordere, daß auch die Kriegsverbrecher der Klasse A und B die Konsequenzen ziehen.“ Damit meinte der Anführer der Jungtürken in der LDP die obersten Parteifunktionäre Seiroku Kajiyama und Koko Sato. 46 Redner erhoben sich neben Ohta, keiner von ihnen sprach für die Parteiführung. Schließlich mußte Generalsekretär Kajiyama seine Vorlagen zurückziehen, nie zuvor in der Parteigeschichte war den LDP- Vorderen ein solches Debakel unterlaufen.

In einem demokratischen Wahlverfahren unter ihren Abgeordneten und Bezirkssekretären wird die LDP nun ihren neuen Vorsitzenden wählen. Schon haben sich die Fraktionsgruppen innerhalb der LDP, deren Konkurrenz untereinander seit den sechziger Jahren die japanische Politik maßgeblich prägte, faktisch aufgelöst. Über ihre Grenzen hinweg verkörpert der voraussichtlich nächste Parteichef Yohei Kono, 56, bereits einen Generations- und Stilwechsel. „Auch wir müssen uns ändern“, begründete Kono gestern seine Kandidatur. „Unsere Partei nennt sich liberal, ist es aber in Wirklichkeit nicht. Der LDP mangelt es an Offenheit.“ Für die Koalitionsverhandlungen mit der Opposition aber käme auch Konos Wahl nicht mehr rechtzeitig. Die LDP, obwohl sie mit einem gesunden Staatshaushalt, dem höchsten Pro- Kopf-Einkommen der Welt und stabilen sozialen Verhältnissen ein stolzes Erbe hinterläßt, ereilt das Schicksal der SED: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.“