Tag der Engel, Tag der Teufel

Freitags, am moslemischen Feiertag, spielen sich im Stadtteil Bab El Oued merkwürdige Szenen ab: Islamisten verkleiden sich als „moderne Menschen“, Militärs als Islamisten  ■ Aus Algier Khadir Obeid

„Heute treffen sich hier die Teufel“, sagt ein Uniformierter an einem Freitagmorgen vor der Al-Sunah-Moschee in Algier. Der Mann ist Mitglied der gefürchteten algerischen Antiterroreinheit, die seit dem Staatsstreich der Junta im Frühjahr 1991 einen blutigen Kleinkrieg gegen die Islamisten der algerischen Heilsfront FIS führt. Die gotteslästerliche Äußerung des Soldaten spielt auf die Geschichte von den Engeln an. Nach der islamischen Mythologie treffen sie sich einmal in der Woche – am Freitag. An den übrigen Tagen sitzen sie auf den Schultern der Menschen, einer links und einer rechts. Der eine notiert die guten Taten, der andere die bösen – für den Tag des Jüngsten Gerichts. Freitags kommen die Engel zur Beratung zusammen. Darum heißt der islamische Feiertag jom-al- jumaa – Versammlungstag. Die Menschen kommen an diesem Tag mittags zum salat-al-jumaa, dem Freitagsgebet, in die Moschee. Aus der Sicht der algerischen Militärs ist der „Versammlungstag der Engel“ ein Alptraum. In den Moscheen hat die islamische Bewegung seit langem ihre Basis. Zwar hat Algeriens Junta die FIS verboten und ihr Vermögen beschlagnahmt. Doch Moscheen kann sie schlecht verbieten.

An diesem Freitag morgen spielen sich vor der Al-Sunah-Moschee in Algiers Stadtteil Bab El Oued merkwürdige Szenen ab: Die Straßen und der Marktplatz quellen über von Menschen. Die Enge ist atemberaubend. „Nein, das ist keine Demonstration“, erklärt ein junger Mann, „unsere Wohnungen sind zu klein. Am Wochenende ist es am schlimmsten. Ich, zum Beispiel, wohne mit 12 Leuten in einer Dreizimmerwohnung, mit meinen Eltern und vier Geschwistern, meine Brüder sind verheiratet, ihre Frauen und Kinder leben auch bei uns. Für mich ist die Straße der einzige Ort, wo ich mich frei bewegen kann“.

Auch die Kaffeehäuser sind brechend voll. An den Wänden lehnen die Männer dicht an dicht. Glücklich der, dem es gelungen ist, einen Stuhl zu finden, wo er seinen Minztee oder Espresso trinken kann. Die Leute an den Wänden haben meistens ohnehin kein Geld, um sich etwas zu bestellen. „Der Tag hat 24 Stunden, erklärt ein anderer junger Mann, „sieben oder acht verbringt man mit Schlafen, und für das bißchen Geld, was man hat, kann man höchstens zwei oder drei Stunden im Café sitzen. Die übrige Zeit muß man rumstehen. An den Wänden ist das immer noch am bequemsten“.

Er stellt sich vor. Sein Name ist Khodur. Letztes Jahr hat er sein Studium als Agraringenieur abgeschlossen. Wie die jungen Leute ist auch er arbeitslos. Ein bißchen Taschengeld verdient er mit dem Verkauf von Zigaretten. „Wohnungsnot, Arbeitslosigkeit und die Repression, das sind unsere schlimmsten Probleme“, sagt er, „wir sind ein reiches Land. Wir haben große Ölvorkommen und Bodenschätze. Aber die korrupten Politiker haben alles gestohlen.“ Er ist nicht schlecht informiert. „26 Milliarden Auslandsschulden hat Algerien“, rechnet er mir vor. „Und Politiker hier haben geschätzt, daß die Summe, die unsere korrupten Funktionäre während der Amtszeit von Schadli Ben Jadid hier eingestrichen haben, ungefähr genauso hoch ist.“ Zehn Jahre war Ben Jadid an der Macht, die Algerier nennen seine Amtsperiode die „schwarze Zeit“.

„Diese Probleme machen uns hoffnungslos“, nimmt Khodur das Gespräch wieder auf. „Und deshalb hat die FIS vor allem bei den Jugendlichen Unterstützung gefunden. Nicht, weil es eine islamische Bewegung ist. Moslems waren wir schließlich schon immer. Unsere Väter und Großväter haben als Moslems schon die Franzosen besiegt.“ Aber warum unterstützen die Jungen gerade die FIS? „Weil alle anderen Parteien von den üblen Machenschaften der Regierung und der Armee wußten und trotzdem den Mund gehalten haben“, lautet die Antwort. „Lediglich die FIS hat sich dem Regime entgegengestellt. Sie hat den Leuten Hoffnung auf eine bessere Zukunft gegeben, hat uns Versprechungen gemacht. FIS ist vor allem ein Ausdruck von Wut und Enttäuschung der Algerier.“ Khodur sucht sich eine bequemere Position an seinem Stückchen Kaffeehauswand. Neben ihm wird ein Teil der Parolen sichtbar, die hinter den Männern die Wände bedecken. „Es lebe die FIS“, steht da, und „Wählt FIS, Islam ist die Lösung“.

„Sogar die Biertrinker unterstützen die FIS“, bemerkt ein Gast in der winzigen „Goldenen Kneipe“ am Marktplatz. „Ich kenne sogar Prostituierte, die FIS gewählt haben. Jeder, der das Regime haßt, hat sie gewählt“, fügt er hinzu und leert sein Bierglas in einem Zug. Fürchtet er nicht um Einrichtungen wie die „Goldene Kneipe“, wenn die FIS das Sagen in der algerischen Hauptstadt hätte? Er wisse es nicht, sagt er und bestellt schnell noch ein Bier.

Draußen ist jetzt Bewegung in die Menge gekommen. Hunderte Menschen drängen, mit Paketen und Tüten beladen, aus der großen Markthalle am Platz. Es sind vor allem Männer, die den Einkauf fürs Wochenende erledigt haben. Vor Beginn des salat al-joumaa, des Freitagsgebetes, müssen sie noch schnell nach Hause, um Gemüse und Fleisch bei den Frauen abzuliefern, die jetzt mit den Vorbereitungen des „Freitagsessens“ anfangen. Es ist eine wichtige Mahlzeit. Bei vielen Bewohnern von Bab El Oued kommt wegen der rasanten Preissteigerungen nur noch freitags Fleisch auf den Tisch. Und hier leben nicht einmal besonders arme Leute, sondern eher Familien der unteren Mittelschicht: Beamte, Angestellte, Ladenbesitzer und Händler.

Rund um den Platz haben jetzt auch die kleinen Freitagsmärkte geöffnet. Hunderte von Vogelhändlern bieten Tauben und die Singvögel an. „Sing gefälligst, du Dummer!“ befiehlt ein Händler einem zitternden kleinen Vogel, der sich ängstlich am Boden des Käfigs duckt und keinen Pieps von sich gibt. Der Kunde, der soeben Interesse an einem Kauf zeigte, geht zum nächsten Stand, der Händler schimpft weiter. „Ich schwöre bei Gott, ich bin nur ein paar Kilometer in ihnen gelaufen“, beteuert nebenan ein Mann, der einem anderen seine alten Schuhe verkaufen will. Der umworbene Kunde zeigt sich wenig beeindruckt: „Mit denen hat jemand schon mindestens zehntausend Kilometer zurückgelegt“, gibt er zurück. „Nein!“ erregt sich der Anbieter, „Anfang des Monats habe ich sie erst gekauft, aber mein Bruder, der in Frankreich arbeitet, hat mir vor ein paar Tagen noch ein Paar Schuhe geschickt. Diese kann ich nun nicht mehr brauchen.“ Hunderte von Männern verkaufen hier alles, was sie irgendwie entbehren können: billige Walkmen, Jeans und Sonnenbrillen. Sie haben keine Arbeit und brauchen Geld.

Ein Blick auf die oberen Stockwerke: Die Frauen machen freitagsmorgens Hausputz. Frischgewaschene Wäsche hängt in den Veranden. Einige Frauen stehen auf dem Balkon und reinigen vor dem Essenkochen noch schnell Teppiche und Matratzen. Eine Frau renkt ihren Arm durch das gekippte Fenster und versucht es von außen zu putzen.

Wo sind aber an diesem Freitag die frommen Männer mit den galabiyahs,den langen arabischen Umhängen, und den Bärten geblieben, die doch gemeinhin als die typischen Unterstützer der Islamisten angesehen werden. Man sieht kaum welche. Doch, da ist einer – und was tut er? Er geht zum Friseur, in den „Le Salon Modern“, und läßt sich seinen Bart abschneiden, das traditionelle Zeichen jedes frommen Moslems.

„Als wir gemerkt haben, daß die ganzen Schnüffler des Regimes sich Bärte wachsen ließen und anfingen, in galabiyahs herumzulaufen, gab die Führung der FIS eine fetwa – ein religiöses Gutachten heraus“, erklärt ein Junge vor dem Frisiersalon. „Darin heißt es, daß sich die Anhänger der Bewegung ganz modern anziehen dürfen und ihre Bärte abrasieren sollen. Damit sie der Geheimdienst nicht so leicht erkennen kann.“ Ist er Mitglied der FIS? Dazu mag er nichts sagen. Wenn man diese Frage vor den falschen Leuten bejaht, kann das heute in Algerien Gefängnis, Folter und Hinrichtung bedeuten.

„Entschuldigung, ich bin hier fremd. Wann beginnt bei euch in Algerien das Freitagsgebet“, frage ich in einem Buchladen. „Fremd ist uns nur der Teufel“, sagt der Buchhändler, „Du bist unser Bruder. Das Gebet beginnt um halb zwei.“ Und mit einem verschmitzten Grinsen fügt er hinzu: „Aber die Leute treffen sich schon um eins.“ Ich verstehe.

Um kurz vor eins bitten die Kaffeehäuser ihre Kunden, zu zahlen. Die Geschäfte schließen. Die Vogelverkäufer packen die Käfige mit den zwitschernden Ladenhütern ein. Die Biertrinker in der „Goldenen Kneipe“ nehmen Abschied von ihren Flaschen. Und dann stürmen plötzlich Gruppen von Jugendlichen aus den Häusern. Die meisten von ihnen sind bärtig und tragen galabiyahs. Gruppen tief verschleierter Frauen sind mit einemmal auf der Straße. Alle eilen in Richtung Moschee. „Das ist unsere Art der Herausforderung“, erklärt ein junger Mann die plötzliche Veränderung. „Es ist eine Botschaft an das Regime: Die islamische Bewegung ist noch da. Wir haben viele verschiedene Arten der Herausforderung entwickelt. Nachts spielen wir Katz und Maus mit ihnen. Wir provozieren die Soldaten, wir beschimpfen sie, und dann rennen wir weg. Wir werden niemals aufgeben. Es gibt für uns kein Zurück mehr. Die Zeit arbeitet für uns.“ Dann entschuldigt er sich. Mehr will er nicht sagen.

Jetzt haben Soldaten der speziellen „Antiterroreinheiten“ an allen Straßenecken um die Moschee Posten bezogen. Mißtrauisch verfolgen sie das Geschehen. Hier haben früher die berühmten Führer der FIS, darunter die beiden zu langen Haftstrafen verurteilten Politiker Abbas Madani und Ali Bel Hadsch, ihre feurigen Reden gehalten.

Vor dem Freitagsgebet spricht normalerweise ein Prediger zu einem bestimmten Thema. Heute geht es um die „Gottesfurcht“. „Wer Gott fürchtet, muß keine Angst vor den Menschen haben“, sagt er. „Die Furcht vor Gott reinigt die Seele und ermutigt jeden, gegen das Unrecht zu kämpfen.“ Alle verstehen, was er meint.

Nach dem Gebet füllen sich die Straßen erneut. Die Kaffeehäuser öffnen wieder. Die erste Kinovorstellung beginnt. Die Jugendlichen kehren auf ihre Stehplätze zurück: Ins Kaffehaus und auf die Straße – mit dem Rücken zur Wand.