Man spricht arte

■ Der binationale Kulturkanal will europäische Worte finden

Wer versteht in Deutschland, was „Cohabitation“ bedeutet? Welcher Franzose vermag zu erklären, warum die Deutschen eine Gesundheitsreform durchführen? Was wissen die Franzosen über die Deutschen, die Deutschen über die Franzosen? „Genaugenommen gar nichts“, sagt Peter Wien, Chefredakteur beim deutsch-französischen Kulturkanal arte in Straßburg. Und wörtlich die jeweiligen Sprachen zu übersetzen reicht da noch lange nicht: Gedankliche Transfers, die feinen Unterscheidungen zwischen wörtlicher Übersetzung und dem übertragenen Sinn einer Nachricht werden für Journalisten in einem geeinten Europa zunehmend wichtiger, sagt Klaus Roth, Professor für vergleichende Volkskunde an der Universität München. „Interkulturelle Kommunikation“ heißt das im Wissenschaftsjargon, und arte steht Modell für die mediale Umsetzung dieses Gedankens.

Zwei verschiedene Sprachen, zwei verschiedene Traditionen, zwei unterschiedliche Kulturauffassungen: Wie kann man so Fernsehen machen und die jeweiligen Sensibilitäten, Prioritäten, Gewohnheiten beider Länder in ein sendefähiges Konzept bringen? „Es geht in erster Linie darum“, sagt Wien, „Themen, die für beide Länder von Interesse sind, auch aus beiden Perspektiven zu betrachten.“ Damit das Publikum in Deutschland und Frankreich die Nachrichten jeweils verstehen kann, müssen die Redakteure einen europäischen Blick auf die Ereignisse werfen. Das setzt Diskussionen innerhalb der Redaktion voraus. Die Nachrichten können nicht nur in der gestanzten, floskelhaften Agentursprache übernommen werden. „Wir wollen weg von den personifizierten Nachrichten des deutschen Fernsehens und setzen auf den Flash-Charakter der Bilder“, sagt Wien. Außerdem werden in der Nachrichtensendung „Achteinhalb“ die raschen Bilderfolgen aus dem Off jeweils deutsch und französisch betextet.

Auf schöne Bilder, auf lange Einstellungen setzen bei arte andere, zum Beispiel das Ressort „Cinema“. „In Deutschland hat der Film seinen einst hohen Stellenwert eingebüßt“, sagt Meinolf Zurhorst, stellvertretender „Cinema“-Leiter. Die Franzosen dagegen hätten sich ihre Spielfilmkultur bis heute bewahrt. Schwierig also, beider Geschmack unter ein Dach zu bringen? „Nein, die Kinosprache ist universell. Über den eigenen Horizont hinausblicken müssen beide Länder.“ Manche Filme des europäischen Autorenkinos würden allgemeinverständliche, elementare Geschichten über Liebe, Gewalt, Verzweiflung erzählen. Das sprachliche Problem löse man, indem in Deutschland im Zweikanalton sowohl die untertitelte Originalfassung als auch eine synchronisierte Version gezeigt wird, in Frankreich nur das Original mit Untertiteln.

Fernsehend die Grenzen überschreiten

„Es bestehen unterschiedliche Nuancen in der Auffassung und im Umgang mit Film in beiden Ländern“, meint Zurhorst und begründet diese Erfahrung mit anderen Lebensumständen, anderer Literatur und einem länderspezifischen Umgang mit der Vergangenheit. „Voneinander lernen“ heißt sein Streben, durch Film das Fremde kennenlernen. Daß dies ein erfolgreiches Konzept sein kann, zeigen ihm die Zuschriften aus Deutschland und Frankreich gleichermaßen. Daraus ließen sich Rückschlüsse auf Geschmacksähnlichkeiten ziehen.

Deutsche Trübsal nervt in Straßburg

In der Redaktion „Titre-jours“, die dreimal in der Woche einen Themenabend gestaltet, ist das anders. Patrick Démerin, stellvertretender Leiter dieses Ressorts, und mit ihm viele Franzosen sind genervt von der „reflektierenden Art“ der Deutschen in ihren Dokumentationen, Beiträgen, Diskussionssendungen. Zu trübselig, zu moralisch, zu negativ, zu betroffen sei der deutsche Journalismus, sagt Démerin. Jetzt, wo das Leben wieder Spaß mache, weil es Sommer ist, solle man sich nur die Themen von ARD und ZDF anschauen: „Aids“, „Die Behinderten“, „Kinder des Ostens“. Auch die Kritik der französischen Presse ist dieser Meinung. „Wenn Sie glauben, daß die französischen Kultursendungen ätzend sind, dann haben Sie noch nie deutsche Kultur gesehen“, wurde im rechten Wochenblatt Minute La France geschimpft. Den Deutschen dagegen ist der französische Journalismus oft zu lässig, nicht hart genug.

Nur zehn der 156 Themenabende pro Jahr produziert die Zentrale in Straßburg, den Rest machen La Sept, ARD und ZDF. Mehr Macht und Geld in die Zentrale nach Straßburg! fordert Démerin deshalb, denn dort sei die Mitte, und dort sei die Redaktion auch bereit, Kompromisse einzugehen. Nur so könne gemeinsamer Kulturjournalismus entstehen. Sein Beispiel: Anfang Juli sendete arte an einem Abend das Thema: „Nasen“ mit einem deutschen Beitrag von Henryk Broder. Titel: „Die jüdische Nase“. Die Straßburger Redaktion wußte um die unterschiedlichen Sensibilitäten – in Deutschland wäre diese Provokation möglich gewesen, in Frankreich nicht: „Wie, die Deutschen machen einen Film über jüdische Nasen?!“ Der deutsche Titel blieb, im Französischen hieß der Beitrag: „fantasmes antisemites“.

Je ein bis drei Prozent der FernsehzuschauerInnen in Deutschland und Frankreich seien es, die sich solche Sendungen anschauen, meint Wien. Spötter nennen arte deshalb den „Blindenkanal – Kanal ohne Zuseher“. Kein Interesse also an interkultureller Kommunikation? „Für arte muß man sich Zeit nehmen“, hofft Peter Wien auf eine Umkehr der Sehgewohnheiten, auf „das Hinsehen“, auf einen innovativen Geist, der sich gegen das Gängige und Vergängliche richtet.

Daß alle EuropäerInnen Brüder und Schwestern sind, sei Quatsch und eine Illusion. Die Egoismen der Menschen, der Nationen gelte es zu erleben, zu bewerten und zu verstehen. Arte bleibe ein Projekt, durch das eine neue Sprache geschaffen werden soll: nicht die deutsche, nicht die französische, sondern die Synthese aus beiden. Britta Egetemeier

Christian Schüle