Der Südlibanon ist menschenleer

Die israelische Großoffensive hat Dörfer und Städte zerstört  ■ Aus dem Südlibanon Khalil Abied

„Ich habe die Kühe heute nicht gemolken“, sagt Hadsche Zainab, „in den letzten Tagen habe ich getrunken, was ich brauchte, um zu überleben. Den Rest habe ich weggekippt. Es ist niemand sonst hier, der die Milch trinken könnte, alle sind geflüchtet.“ Die beiden Kühe von Hadsche Zainab liegen im Stall und kauen gemächlich. Neben ihnen hockt die alte Frau. Sie hat die ganze letzte Woche hier im Stall verbracht. Während der israelischen Bombardierungen schien es noch der sicherste Ort zu sein, denn in den traditionellen Bauernhäusern des Südlibanon liegt der Stall häufig im Souterrain. Es ist ein solides Haus aus behauenen Steinen und es gehört zu den wenigen Häusern des Dorfes Barra Scheet, die nach dem israelischen Angriff noch stehen.

Barra Scheet und weitere 50 Dörfer des Südlibanon wurden letzte Woche auf Geheiß der israelischen Armee zur geschlossenen Zone erklärt und fast ununterbrochen bombardiert. Die alte Frau gehört zu den wenigen Leuten, die während der vergangenen sieben Tage nicht geflüchtet sind. Von den siebentausend Bewohnern des Ortes sind nur knapp hundert alte Leute geblieben. „Ich bin alt und wollte lieber hier sterben, als die Pein und Erniedrigung der Flucht auf mich zu nehmen“, sagt Hadsche Zainab.

Über die Straße war das Dorf letzten Freitag nicht zu erreichen, die letzten fünf Kilometer mußte man zu Fuß quer durch die Berge gehen. Irgendwo, fünfzig Kilometer südlich der Hafenstadt Saida, gibt der Taxifahrer auf. Metertiefe Krater machen die Straße unpassierbar. Fahrzeuge, die Richtung Süden fuhren, wurden von israelischen Hubschraubern verfolgt und beschossen. An den Straßenrändern liegen ausgebrannte Autowracks. Unmittelbar vor dem Dorf schießen israelische Heckenschützen an diesem Freitagnachmittag, als die Waffenstillstandsverhandlungen bereits im Gange sind, immer noch auf alles, was sich rührt. Barra Scheet liegt nur einen knappen halben Kilometer von den israelischen Stellungen an der Demarkationslinie zum israelisch besetzten Teil des Südlibanon entfernt.

Die alte Hadsche Zainab lächelt. „Gott sei dank hatte ich ein paar Kartoffeln und Zwiebeln im Stall gelagert.“ Dann schlägt sie plötzlich die Hände vors Gesicht. „So schlimm habe ich es noch nie erlebt“, bricht es aus ihr heraus. „Fünf Tage lang ununterbrochen das Krachen. Was haben wir ihnen getan, daß sie uns so behandeln? Ich habe mir nie vorstellen können, daß die Israelis so gnadenlos sind. Ich habe gebetet. Manchmal habe ich dann die Explosionen nicht mehr gehört und die Angst ließ nach.“

Sie hat inzwischen im Stall etwas Reisig zusammengesucht und zündet ein Feuerchen an, um Kaffee zu kochen. „Wo kommst du her, was hast du im Dorf gesehen“, fragt sie ihren überraschenden Gast. Und ich erzähle ihr von den Ruinen der Dörfer, die ich auf der Fahrt entlang der Straße gesehen habe, von den Cobra-Raketen, die auf die Autos abgefeuert wurden, von den Feldern, in die der Raketenbeschuß tiefe Furchen und Gräben gepflügt hat. Und von dem alten Mann, den ich am Rande des Dorfes getroffen habe. Er hat im leeren Haus der Nachbarn Zuflucht gesucht und sich heute, anders als Hadsche Zainab, zum ersten Mal ins Freie getraut.

„Dort habe ich gewohnt“, sagte der Alte zu mir, als ich vorbeikam, und zeigt auf einen Haufen Trümmer. Der Boden ist aufgerissen, manche der Bombenkrater sind bis zu drei Meter tief. Am Dorfplatz sehe ich ein zusammengestürztes Minarett, zwei Bomben sind auf den Vorplatz der Kirche gefallen, das Schiff ist schwer beschädigt. In einer Nebenstraße liegen zwei Häuser ganz in Trümmern. Der Supermarkt ist ausgebrannt. Die meisten Häuser sind schwer beschädigt.

„Ich frage mich, ob unsere Leute nach dieser Erfahrung in den Südlibanon zurückkehren können“, sagt Hadsche Zainab zu meinem Bericht. Sie hat sich bisher noch nicht aus dem Stall gewagt und kann die Verwüstungen im Dorf nur ahnen. „Wer soll uns garantieren, daß Israel so etwas nicht wieder macht? Wenn ich mir vorstelle, daß mein Dorf so menschenleer bleiben wird wie jetzt, werde ich verrückt.“

Draußen geht die Sonne unter. „Beeile Dich, mein Sohn, geh' zurück“, rät sie mir. „Dein Weg wird gefährlich sein. Sag allen Leuten, Hadsche Zainab ist gesund und vermißt die Leute von Barra Scheet“, gibt sie mir zum Abschied mit.

Ich trete den langen Rückweg an. Über den Feldweg durch die Berge brauche ich zwei Stunden bis zu jener Straßenkreuzung, an der mich mein Fahrer aus Beirut erwartet. Nach einer halben Stunde treffe ich irgendwo unter den Bäumen auf eine Gruppe junger Männer. Sie sind mit Kalaschnikows und Antipanzer-Raketen bewaffnet. „Wo warst du?“ fragt mich der Anführer der gut zwanzig Mann. „In Barra Scheet. Und wer seid ihr?“ – „Hisbollah“, sagt der Anführer und stellt sich vor. Hassan ist zwanzig Jahre alt und Student an der Universität von Beirut. Manche Mitglieder der Gruppe sind noch jünger, Arbeiter, Studenten, Schüler.

„Wo sind Eure Katjuschas?“ frage ich sie. Sie lachen. „Dafür sind andere verantwortlich. Wir sind hier, um einer möglichen Invasion zu begegnen“, sagt Hassan. „Barra Scheet ist leer“, wende ich ein, „was wollt ihr denn mit eurem Spielzeug gegen die israelische Militärmaschinerie unternehmen?“ – „Gott ist auf unserer Seite“, gibt der Anführer erwartungsgemäß zurück. „Wir werden niemals aufgeben. Solange Israel einen Teil des Libanon besetzt hält, wird es hier keine Ruhe geben. Wir werden bis zum letzten Tropfen Blut kämpfen.“

Das weitere Gespräch bestreiten die jungen Leute mit den alten Parolen, die man schon seit Jahren von der Hisbollah, der schiitischen „Partei Gottes“, zu hören bekommt, einer bizarren Mischung aus Ho Chi Minh und Che Guevara-Zitaten, die ideologisch mit Koran-Suren, Sätzen des Propheten Mohammad, des Propheten Ali und vom iranischen revolutionsführer Chomeini unterfüttert werden. Der Einwand, daß nun die Dörfer und Städte zerstört seien, und daß schweres Leid über die Bevölkerung des Südlibanon gekommen sei, beeindruckt sie nicht. Auch darauf haben sie eine wenig originelle Antwort parat: „Das ist der Preis der Freiheit.“ Dschib Scheet, Bir Al-Salassil, Tibnin, Nabatiyeh, die Liste der schwer beschossenen Orte ist lang. Etwa achtzig Dörfer und Kleinstädte im Südlibanon teilen das Schicksal von Barra Scheet. Sie sehen aus wie nach einem Erdbeben. Die acht Dörfer, die wir auf dem Rückweg nach Beirut passieren, sind fast menschenleer. Wie in Barra Scheet sieht man höchstens ein paar alte Leute, die sich wie Hadsche Zainab die Flucht ersparen wollten. Die Guerilleros der Hisbollah, von der ebenfalls schiitischen, aber gemäßigteren Amal- Bewegung und der kommunistischen Partei, die von libanesischer Seite an den Kämpfen beteiligt waren und während der ganzen Woche das nordisraelische Grenzgebiet beschossen, haben ihre Stellungen in Erdlöchern und den Bergen versteckt.

Obwohl die Zivilbevölkerung schon einen Tag nach Beginn der Bombardierung ihre Städte und Dörfer verlassen hat, setzte die israelische Armee sieben Tage und Nächte lang den Beschuß und die Bombardierungen fort. Hunderte von schweren Kanonen und Panzern, Kampfflugzeugen, Kriegsschiffen und Hubschraubern waren im Einsatz und haben den Südlibanesen das Leben zur Hölle gemacht. Die Bombardierung hielt an, bis an vielen Stellen kein Stein mehr auf dem anderen stand.

Nach UN-Angaben sind allein auf die Dörfer im UNIFIL-Operationsgebiet, das etwa ein Drittel des angegriffenen Territoriums ausmacht, 30.000 Bomben gefallen. 1.200 Luftangriffe seien in der letzten Woche auf das Gebiet geflogen worden, schätzten Sprecher der UNO. Vor allem die Zentren der Dörfer und Städte und die Infrastruktur des Gebietes wurde systematisch zerbombt: Wasser- und Elekrizitätswerke, Straßen, Schulen und und andere öffentliche Gebäude sind zerstört oder schwer beschädigt. Nach offiziellen libanesischen Angaben wurden knapp zehntausend Häuser dem Erdboden gleichgemacht, etwa 20.000 Gebäude sind schwer beschädigt.

Als wir das Dorf Kaffar Melki passieren, sind Mitglieder des Zivilschutzes dabei, die Leichen von zwei Frauen aus den Trümmern eines Hauses zu bergen. Da die Bergungsarbeiten noch längst nicht abgeschlossen sind und viele Menschen erst im Krankenhaus ihren Verletzungen erliegen, steigt die Zahl der Toten immer noch an, die der libanesische Rundfunk gestern mit 190 bezifferte. Unter den Toten, so der Rundfunksprecher, seien acht Mitglieder der Milizen, ein libanesischer Soldat, alle übrigen seien Zivilisten.

„Wegen der anhaltenden Bombardierung konnten wir viele Dörfer nicht erreichen“, berichtet der völlig übernächtigte Chef des Krankenhauses von Tibnin, Dr. Fawaz, den ich auf dem Rückweg in die überfüllte Hauptstadt Beirut zu einem kurzen Gespräch treffe. „Unter den Ruinen liegen noch viele Tote.“ Am späten Abend begleite ich ihn auf der Visite. „Die meisten Verletzungen wurden durch die Explosion von Brand- und Splitterbomben verursacht“, sagt er am Bett der 50jährigen Zahra Moallim. Sie hat schwere Verbrennungen im Gesicht und am ganzen Körper. Dr. Fawaz fürchtet, daß sie nicht überleben wird.

Dann führt der Arzt mich zu Hamsa Mira'i, einem drei Monate alten Säugling. Die Familie war mit dem Auto unterwegs nach Norden, als ein Bombenhagel einsetzte. Der Wagen wurde zwar nicht getroffen, aber der Vater konnte ihn nicht unter Kontrolle halten. Nach einem schweren Unfall wurde das Kind mit einem Schädelbasisbruch zusammen mit den verletzten Eltern nach Tibnin gebracht.

Eine andere Patientin, die 35jährige Leila Dirheli aus Abra wurde schon am ersten Tag verletzt. „Wir haben gerade zu Abend gegessen“, erzählt sie, „plötzlich hörten wir Flugzeuge, dann eine Explosion. Als ich wieder zu mir kam, war ich hier im Krankenhaus.“ Sie hat ihr rechtes Bein verloren. Neben ihr liegt ihr sechsjähriger Sohn Samit. Er wurde von einem Schrapnellgeschoß in die Brust getroffen, und die Ärzte haben seinen rechten Lungenflügel entfernen müssen. Unten, vor dem Hospital, berichtet ein junger Mann, der mit einer Gruppe islamischer Pfadfinder an den Rettungsarbeiten beteiligt war, daß die israelische Luftwaffe auch das Feuer auf die Ambulanzen eröffnet habe: „Allein von unseren Fahrzeugen wurden sechs im Einsatz angegriffen und zerstört. Zwei unserer Helfer sind dabei ums Leben gekommen.“ In einem der nächsten Dörfer stehen zwei verbrannte Ambulanzen am Straßenrand.

Seit 48 Stunden schweigen im Libanon nun die Waffen. Doch die Dörfer im Süden sind niedergebrannt. Für die Zurückkehrenden wird das Leben hier kaum erträglich sein.