Sanssouci
: Nachschlag

■ Echt finster – Europas allergrößtes Mittelalterspektakel

Wer schon seit frühester Jugend von jeglicher Form kostümierter Darbietung in seiner unmittelbaren Nähe peinlichst berührt war, wer zum Beispiel nie im Leben Funkenmariechen oder Freizeitindianer hätte werden können, vermeidet wahrscheinlich schon instinktiv jedes juteumspannte Areal. Allen anderen zur Warnung: hinter den Rupfenwänden, die auf Marktplätzen allerorten derzeit gerne den Blick aufs Rathaus verstellen, verbirgt sich Unsägliches. Ein kleines Prangerchen mit einer kleinen Krähe; ein kleiner Galgen und ein kleiner Scheiterhaufen; dazu ein paar Ziegen und schlampig gekleidete Leute mit Schnabeltassen an den Füßen: fertig ist das Mittelalter. Nein, wie blöd.

Blödheit ist bekanntlich akkumulativ, dabei hat sich Specktakulatius, Veranstalter des allergrößten deutschen Mittelalterspektakels, mehr Mühe und viel, viel mehr Gedanken gemacht. Nach „zahlreichen Anfragen aus weiten Landesteilen“ haben sie aus 500 Tonnen Requisiten erneut ihre Pfahlburg errichtet – jeder Strick handgedreht. „In nie wie hier erreichter Form“ wird unter tätiger Mitwirkung mehrerer hundert Darsteller die „großgeschriebene Animation“ des Publikums betrieben, das schon nach kürzester Zeit „gleichsam begeistert, ob dem Erlebnis lebendigen Geschichtsunterrichts“ (sic!) völlig überwältigt ist. Denn immerhin wird hier „unfaßbare Geschichte anfaßbar gemacht, wenn das Zeitalter der Romanik und Gotik seine Renaissance erlebt.“ „Büttel erfassen den Tagedieb, Ritter duellieren sich zum Übermut in voller und echter Blechmontur... und Willkür und Unwissenheit werden durch das Erscheinen der Inquisition dargestellt.“

So „mancher Geschichtslehrer kommt aus dem Staunen nicht heraus“, denn „die Authentizität ist schon dadurch gewährleistet, daß ein Großteil der Darsteller aus Idealismus wie im Mittelalter lebt“. Das ist umstandslos zu glauben. Junge, gesunde Männer stolzieren ohne Not und mit wichtiger Miene in Pluderröckchen und Kettenhemdchen, mit mehr oder weniger Henkerbeilen behängt, umher. Die Mädels setzen entweder auf derb-linnene Drallheit oder posieren verhuscht-verträumt im Flatterhemdchen. Überall sind kleine, einstudierte Dialoge zu belauschen (Gebe er mir mal einen Becher Saft), mal dreht ein Paar einige Pirouetten, mal kreuzt ein Gruftie den Weg – sprich er mich nur nicht an, ich knall' ihm sonst vielleicht eine. Hin und wieder steigt eine der (natürlich!) weniger Drallen zu Animationszwecken nackicht in den Badezuber, in dem „so einige Schelmerei betrieben“ werden soll. Besucher erhalten bei Gleichtun Wein gratis. Zur Bestechung. Das Wasser wird täglich gewechselt. Auch „die dort anzutreffenden Handwerker und Musiker sind echt“. Sympathische junge Menschen, die „einer Zivilisation müde geworden sind, die nur noch einseitig auf Leistungsstreben fixiert ist“, und nun die „Alternative leben“. Mittelalter eben. Das rustikale Gebäck kommt zwar aus der Großbäckerei in Tempelhof, aber die spitznasigen Ledermasken, die Metallschnallen, Haffen, Wollstränge und Dürer-Imitationen werden vor Ort, langsam zum Mitgucken, hergestellt.

Foto: Specktakulatius

Das alles wäre – trotz Ritterspiele, nächtlicher Pestumzüge und Inqusitionsveranstaltungen – gerade mal ein mittelgroßer Budenzauber, gäbe es nicht den für Großveranstaltungen aller Art unverzichtbaren Überbau. „Das Durchleben vergangener Zeiten trägt zur Gesundung eines Volkes bei“ – kein geringerer als Nietzsche wird hier als Beleg für den „wahrhaft therapeutischen Charakter“ des „multiemotionalen Spektakels“ herbeigezerrt. Die „geschickt inszenierte Gratwanderung zwischen Humor und der ständigen Bedrohung durch die Willkür der Macht“ gerät dabei allerdings selbstverschuldet ins Schlingern: „Wenn die gesetzgebende Gewalt (damals Klerus – heute Staat) völlig versagt und dem Volk (damals am Scheiterhaufen – heute in Rostock) ins Bewußtsein gerufen wird, wie menschliches Handeln, symbolisiert durch das Einschreiten der Ritter, aussehen sollte (...), behält Nietzsche recht und hat Specktakulatius sein Anliegen erreicht.“

Da – eben hat's da hinten den Geschichtslehrer endgültig umgehauen. Er konnte und wollte einfach nicht begreifen, daß hier, „abseits des Massengeschmacks eine wirklich kulturelle Variante“ entstanden ist. Auch noch durch das „oberste Gebot der Autarkie“, der schönsten aller mittelalterlichen Tugenden. „Es wäre ein leichtes, die Werbeplakate mit den Insignien der Zigaretten- oder Fernsehwerbung zuzukleistern und so einen Millionencoup zu landen. Die potentiellen Sponsoren stehen Schlange... So bleibt in einer Zeit, wo man selbst im Staatstheater nicht mehr vor der Langnesewerbung sicher ist, Specktakulatius, neben Herbert Grönemeyer, die einzige kulturelle Instanz, die es vorzieht, selbständig zu bleiben, statt sich für die schnelle Mark verbraten zu lassen. Vielleicht ist das, neben den einfühlsamen und poesievollen Inszenierungen, eines der Geheimnisse des Erfolges.“ Tut mir ja leid, aber nein, wie blöd. Barbara Häusler

Bis 29.8., Mi.–So., auf dem Potsdamer Platz. Alle Zitate sind dem Pressematerial entnommen.