Sanft schwillt er

Über die B-Premiere von Heiner Müllers „Tristan und Isolde“ in Bayreuth  ■ Von Thierry Chervel

Eine gute Nachricht vorweg: Die taz ist immer noch nicht etabliert. Jedenfalls gehört sie nicht zu den Zeitungen, die wie FAZ, Süddeutsche oder FR automatisch eine Premierenkarte für Bayreuth bekommen. Wonach sonst sollte sich in Deutschland die Wichtigkeit eines Mediums bemessen? So blieb der taz nur die sogenannte B-Premiere am letzten Samstag, die sechs Tage nach der eigentlichen Premiere stattfand.

Aber das war gar keine richtige Premiere, denn Heiner Müller, Erich Wonder und Yohji Yamamoto – Regisseur, Bühnen- und Kostümbildner – traten nach den Schlußakkorden und den Vorhängen für die Sänger nicht vors Publikum, um die Buhs entgegenzunehmen. Sie waren nicht mehr zugegen. Einsam stand Daniel Barenboim da, den manche im Publikum offensichtlich für den Regisseur hielten und routinemäßig mit ihrer Empörung überschütteten. Barenboim blieb einfach solange stehen, bis sich die Gegenfraktion mit Bravorufen und Getrampel auf den Holzboden der Scheune durchgesetzt hatte. Damit setzte er auch die Inszenierung durch.

Die Kritiken der Kollegenschaft waren seltsam lau, irgendwie unentschieden gewesen, so als wüßte man noch nicht so recht, was man von diesem „Tristan“ halten soll, oder traute sich nicht, es zu sagen. Alle folgten dem gleichen Aufbau: erstes Drittel: allgemeine Erwägungen, meist über den größten lebenden deutschen Dramatiker; zweites Drittel: Bühnenbild und Inszenierung; drittes Drittel: musikalische Leistungen. Nur die Zeit schaltete dem Ganzen noch einen subjektiv-ästhetischen Eindruck vor und trennte ihn durch ein Sternchen vom Rest des Artikels ab. Eine besonders geistreiche Methode.

Müllers „Tristan“ endet als Konzert. In goldenem Abendkleid von Yohji Yamamoto – nach all den mattschwarzen und staubgrauen Kostümen, die er für die vorherige „Handlung“ entworfen hatte – steht Isolde an der Rampe, dem Publikum zugewandt. Kaum gestikulierend trägt sie ihren Liebestod nurmehr vor. Sie beugt sich nicht, wie zu erwarten wäre, über den toten Mann. Tristans Leiche liegt weit hinter ihr.

Wie sie da steht, mit glatten langen Haaren und zum Zwecke der Berufsausübung weit geöffnetem Mund, erinnert sie an den „Schrei“ von Munch. Waltraud Meier singt wunderschön, mit Autorität, mit dunkel timbrierter Stimme in den höchsten Tönen. Zwar ist sie von den Strapazen des Abends schon etwas ermüdet, aber dadurch gerät ihr Vortrag nur bewegender. Am Ende dieses Vortrags allerdings macht sie keinerlei Anstalten, den Liebestod nun auch zu sterben. Der Vorhang fällt, und Konzertsängerin Isolde steht da immer noch, Mund jetzt zu, der mehr als verdienten Beifallsstürme harrend. Es ist nicht nur das Ende der, sondern von Inszenierung, scheint die Inszenierung sagen zu wollen – und wird dadurch erst zu reiner Inszenierung, Inszenierung zweiten Grades: ein dialektisches Wackelbild. „Tristan und Isolde“ ist nur noch Material. Spielmaterial. Ein Spiel hat Regeln. Spielen wir mit, ist Müllers Devise, aber betonen wir das Ritual- und Regelhafte so sehr, daß es offenbar wird. Langsam und geometrisch, schön und mysteriös sind die Gesten der Akteure zu den heißen Impulsen der Musik. V-Effekt. So wie manche sagen: Brecht mit Brecht, sagt Müller: Wagner mit Brecht. Um nicht zu sagen: Brecht mit Wagner? Denn als Inszenierung von Inszenierung löst sie sich auch los von der in „Tristan und Isolde“ so dringlich, krude und obszön sich präsentierenden Geschichte. Nimmt Müller die ernst? Muß man die gar nicht ernst nehmen? Ist die B-Premiere nur die erste Wiederholung der Premiere oder die abertausendste Wiederholung eines Mysterienspiels, dessen Regeln man sich fügen muß?

Erich Wonders Bühnenbild ist ein nach allen Seiten geschlossener Kubus, im ersten Akt rot, im zweiten blau, im dritten grau. Nur in der Hinterwand öffnet sich ab und zu eine sonst nicht sichtbare Tapetentür, durch die, mit hartem Lichteinfall, die öde Außenwelt in Tristans und Isoldes Umstrickung bricht. Auf alle Wände des Kubus sind mehr oder weniger abgehobene Lichtvierecke oder -streifen projiziert oder gemalt, auch auf die vordere. Denn das ist das Entscheidende: Auch nach vorn, zum Publikum, ist der Kubus geschlossen – durch eine transparente Gazewand, auf die, wie auf die anderen Wände, Licht projiziert wird, mal mehr, mal weniger, Streifen, Ränder, Quadrate. Je mehr Licht auf die Gaze fällt, desto mehr reflektiert sie, desto weniger ist sie transparent und desto entrückter erscheinen die Akteure. Außerdem entstehen Überlagerungen dieser äußeren Projektion mit den inneren Projektionen, die den Raum tendenziell ins Schleierhafte aufheben.

Als Tristan und Isolde im ersten Akt den Liebestrank einnehmen und sich „erkennen“ – eine der dramatischen Peripetien, die Wagner im Pianissimo geschehen läßt –, wird das weiße Quadrat, hinter dem sie bisher agierten, plötzlich „schwarz“ – das heißt: transparent –, während auf die bisher ausgesparten Bildränder neues Licht projiziert wird. Eine Negativwirkung entsteht, wie man sie empfindet, wenn man lange Zeit auf eine Farbe geschaut hat und den Blick dann auf eine weiße Fläche wendet. Ein überwältigender Moment. Wonder reflektiert mit dieser Arbeit nicht nur den „Tristan“, sondern auch den Bayreuther Festspielraum, der mit seinen ansteigenden Rängen, dem Verzicht auf Seitenlogen und dem in die Unsichtbarkeit versenkten Orchestergraben, aus dem nicht einmal die Hand des Dirigenten emporfliegt, das erste Kino der Welt ist.

Der Preis, den Müller für Wonders geschlossene Bühnenräume bezahlt, ist der der Hermetik. Diese Räume lassen sich nicht überschreiten. Am Gazevorhang ist Schluß. Vielleicht ist es kein Zufall, daß die Produktion auf allen Ebenen – Musik, Personenregie, Bühnenbild – im zweiten Akt am schwächsten wirkt. Diesen Akt mit Tristans und Isoldes Tag- und Nachtgesang hat man einen auskomponierten Orgasmus genannt. Aber für das Überbordende der Musik findet Müller keine Chiffren. Grenzen, die Wagner rücksichtslos hinter sich gelassen hat, kann man nicht noch durch Lichtwirkungen vornehm transzendieren. Das Bühnenbild dieses Aktes zeigt Ritterrüstungen in militärischer Formation, die ein paar Gänge freilassen. Isolde und Tristan schreiten hindurch – ratlos wie Zen-Mönche in der Diskothek. Die ausgefeilt langsamen Gesten haben mit ihren ekstatischen Gesängen nur dort zu tun, wo es dramaturgisch nicht zu vermeiden ist. Die Gemessenheit ihrer Bewegungen aber dementiert die Wildheit der Musik und der Geschichte, die sie erzählt. Es ist genau der Punkt, wo Müller diese Geschichte nicht ernst nimmt, wo ihm ihr Pathos peinlich zu sein scheint, wo er sie um Himmels willen Material sein lassen will. Dadurch fällt ein Schatten auf den ganzen Akt. Bemerkenswert, wie alle mitspielen und sich im Moment der Entfesselung zurückhalten. Siegfried Jerusalem als Tristan klingt geradezu indisponiert, knödelt, hat Intonationsprobleme, während er im dritten Akt, der wieder statischer ist, und wo Tristan eine monströse Sterbeszene hinzulegen hat, bevor er sich selbst hinlegt, ganz und gar fantastisch singt.

Bemerkenswert auch, wie gut Müllers ästhetisierende Inszenierung und Daniel Barenboims Musizierstil zusammenpassen. Barenboims Orchester ist extrem präzise und flexibel, ein Mitspieler im großen Spiel, aber mit dem Nachteil einer gewissen Glätte. Schon der berühmte, nach der überkommenen Harmonielehre nicht zu enträtselnde Tristanakkord in der Ouvertüre: Sanft schwillt er, selbstgenügsam. Was fehlt, ist ein kleines Sforzato. Nicht das leiseste Erschrecken über sich und seine ungeheuren Konsequenzen ist ihm anzuhören. Der neue Bayreuther „Tristan“ ist sicherlich der beste, der zur Zeit auf der Bühne zu hören ist – das Sängerensemble ist umwerfend –, aber das heißt ja nicht, daß er nicht noch besser zu denken wäre. Vielleicht ist Barenboims Ideal zu sehr ein musikalisches, nicht genug ein dramatisches. Zu gern opfert er das charakteristische Detail der alles überwölbenden musikalischen Linie. Es ist eine Art CD-Ästhetik, schillernd, ungreifbar, staubfrei, die den „Tristan“ eher entrücken als präsentieren zu wollen scheint. Und dazu paßt eben der Müller.

Müllers „Tristan“ ist die letzte Inszenierung der achtziger Jahre – das Musiktheater kommt ja immer ein bißchen spät: ein Denkmal – imposant, aber mit dem Problem des Statuarischen, eine Variation über ein Material. Aber so etwas wie persönliche Involviertheit oder Verantwortung wird dadurch weggeschoben. Jetzt muß etwas anderes kommen.