Auf die Persönlichkeit kommt es an

Zum Schulanfang: Widerspruch gegen die Schuldzuweisung an die 68er-Pädagogik, sie sei Wegbereiter der rechtsextremen Jugendlichen / Lehrer sein ist mehr als Wissensvermittlung  ■ Von Rainer Werner

Vor einigen Monaten sorgte ein Thesenpapier der Oberschulrätin Frau Dr. Kabisch zum Thema „Gewalt – Folgerungen für Schulalltag und Erziehung“ in den Kollegien der Schulen für einigen Wirbel. Die Thesen reihten sich ein in eine Serie von Veröffentlichungen in den Medien, die alle um das Thema kreisten: Hat angesichts der eruptiven Ausbrüche von Gewalt bei einem Teil unserer Jugendlichen die Erziehung oder enger gefaßt: die Schule versagt? Durch die nicht abreißende Kette von Gewalttaten rechtsextremer Jugendlicher gegen Ausländer in den letzten Monaten haben die Thesen eher noch an Aktualität gewonnen.

Im Visier: antiautoritäre Erziehung

Das Papier führt aus, daß die Zeit des Umbruchs seit der Wiedervereinigung und die damit einhergehende Krise bei den Jugendlichen zu einem Wertevakuum führe, das durch den als schwach empfundenen Staat verstärkt werde. Die Mitschuld der Lehrer liege darin, daß sie in der Vergangenheit „ungenaue und falsche Akzente gesetzt“ hätten. Ihr Erziehungskonzept, das auf „Selbstverwirklichung, Konfliktstrategie und Infragestellung als oberstes Prinzip“ abgestellt gewesen sei, habe zur Erosion „grundsätzlicher Übereinstimmung“ in der Gesellschaft beigetragen. In der Folge wird ein Katalog von Erziehungsleitlinien aufgeführt, mit deren Hilfe eine Werteerziehung wieder gelingen könne, wie zum Beispiel Wiederbesinnung auf die „alten Tugenden“ der Verläßlichkeit, verantwortungsvollerer Umgang mit der Sprache usw.

An dieser Argumentation ist unschwer zu erkennen, daß hier die sogenannte „antiautoritäre“ Pädagogik der 68er-Bewegung aufs Korn genommen werden soll. Dies scheint inzwischen ein modischer Trend im postmodernen Meinungskarussell zu sein. Fragwürdig ist allerdings die Vermengung mit der Frage, ob die Gewalt der Skinhead-Kids von Hünxe, Mölln und Solingen auf dieser Art von Erziehung zurückzuführen sei. Zweifelhaft ist außerdem die Annahme, diese Art von Pädagogik habe sich flächendeckend im Schulalltag durchgesetzt. Wozu sonst der Gestus der Kollektivanklage, der das ganze Papier durchzieht: „Wir müssen uns fragen lassen... “, „es wird Zeit, daß wir... “ – Woher nimmt die Autorin die Sicherheit, daß alle Lehrer den „Verriß der Gesellschaft“ an erste Stelle gesetzt haben, woher die Gewißheit, daß alle Lehrer den Schülern Werte „vorenthalten“ haben? Den sprachlichen Gipfel dieser Art von Generalverdacht erklimmt das Papier mit folgender Formulierung: „Wir sollten wieder den Mut finden zu verantwortungsvoller Erziehung – jetzt!“ Daraus ließe sich der logische Umkehrschluß bilden: Wir haben bisher aus Feigheit verantwortungslos erzogen. Eine in ihrer Pauschalisierung absurde Unterstellung!

Als Lehrer, der in seiner Studienzeit von den Erziehungsgedanken von Summerhill und Tvind beeinflußt war, kann ich heute nach 18 Jahren Schulpraxis feststellen, daß leider viel zu wenige dieser Gedanken im Schulalltag Realität geworden sind. Damit meine ich natürlich nicht das Zerrbild, das in den Medien immer wieder als das Wesen der sozial-integrativen Erziehung ausgegeben wird. Inzwischen gibt es eine Menge seriöser wissenschaftlicher Veröffentlichungen über die Wirkungsweise einer nichtautoritären Erziehung. Sie kommen zu durchweg positiven Resultaten. Weder sind die so erzogenen Kinder haltlose, vor Egoismen berstende narzißtische Wesen, noch neigen sie zur Gewaltanwendung. Sie haben vielmehr gelernt, früh Verantwortung für ihr Tun zu übernehmen, eigengesteuert zu agieren. Sie akzeptieren Autorität nur, wenn sie authentisch ist, während sie formale Autorität, die nur auf Machtposition pocht, in Frage stellen. Zu Gewalttätigkeiten neigen sie deshalb nicht, weil sie sie quasi nicht nötig haben. Sie verfügen über einen so soliden Persönlichkeitskern, daß sie sich Macht nicht mit Fäusten „erborgen“ müssen.

Der überforderte Lehrer

Die Autorin des Papiers verwechselt die Tatsache, daß viele Lehrer im Unterricht nicht klarkommen, also offensichtlich in ihrem Beruf überfordert sind, mit einer bewußt verfolgten Erziehungsstrategie hin zum Unverbindlichen. Von diesen Kollegen mehr Mut zur Erziehung zu fordern, wie sie es tut, geht deshalb völlig am Problem vorbei. Genauso könnte man zu einem Depressiven sagen: Sei mal fröhlich! Der Lehrerberuf ist in den letzten zehn Jahren sehr viel schwieriger geworden, weil immer mehr nicht oder nur unzulänglich erzogene Kinder vom Elternhaus im Dienstleistungsbetrieb Schule abgegeben werden. Daß daran nicht die „antiautoritäre“ Erziehung schuld sein kann, sieht man daran, daß die Erziehungsdefizite vor allem in den Familien der Unterschicht auftreten, die ja wohl nicht von Neill und Bernfeld beeinflußt sein dürften.

Vom Fachlehrer zum Erziehungsarbeiter

Angesichts des Wegbrechens eines Wertesstems, das in der Nachkriegszeit die Sinnstiftung der Menschen einigermaßen gewährleistet hat, kann sich die schulische Pädagogik nur in der Rolle des Hasen aus dem Märchen fühlen, der am Ende der Furche das desillusionierende „Ich bin schon hier!“ erschallen hört. Oder unbildlich ausgedrückt: Wie kann man Kindern, die ohne gemeinschaftstaugliche Werte großgeworden sind, solche später in der Schule vermitteln? Wie sollen Kinder Werte verinnerlichen, die durch das Verhalten der Erwachsenen, oft ihrer eigenen Eltern, tagtäglich konterkariert werden? Auf diese Fragen müssen heute alle Überlegungen zur schulischen Erziehung eine Antwort suchen. – Im Schulalltag können sich offensichtlich nur noch Lehrer richtig „durchsetzen“, die sich mit ihrer ganzen Person – auch unter Preisgabe ihrer Emotionalität – „einbringen“, deren Autorität dann irgendwann – oft erst am Ende eines zermürbenden Kleinkrieges – als authentisch anerkannt wird. Das bedeutet oft, Abschied zu nehmen vom rein Fachlichen, erfordert eine Hinwendung zur ganzen Person des Schülers, das Ernstnehmen seiner privaten Sorgen, das Angebot von Lebenshilfe.

Das Berufsbild des Lehrers wird sich deshalb mit Sicherheit wandeln hin zum Erziehungsarbeiter, der neben Physik oder Erdkunde auch noch Psychologie und Familienfürsorge betreiben muß. Hier hinkt die Lehrerausbildung hoffnungslos hinter der Realität her. Wo sind die lebensnahen Praktika während des Studiums, die einem Studenten zum Schluß die Frage abnötigen, ob er sich diesen schweren Beruf auch wirklich zumuten will und kann? Wo ist die Ausbildung zur Beherrschung gruppendynamischer Prozesse, zur Steuerung von Konflikten? Wo lernen Lehrer, bevor sie auf Schüler zugehen, per Supervision die Wirkung ihrer eigenen Persönlichkeit auf andere kennen? Wann wird das Bestehen der Probezeit für Lehrer endlich nicht mehr nur von einer gelungenen Lehrprobe in seinem Fach abhängig gemacht, sondern von der Bewährung im Schulalltag, dem Nachweis eines sicheren Umgangs mit seinen Klassen und schwierigen Schülern?

Wenn die ganzheitliche Erziehung an unseren Schulen Platz greifen soll, muß allerdings eine völlig neue inhaltliche Schwerpunktsetzung erfolgen. Die fachliche Ausbildung muß auf wesentliches Orientierungsvermögen zurückgestutzt werden. In der Vermittlung von Detailwissen ist das Fernsehen dem schulischen Lernprozeß ohnehin überlegen. Schule muß jedoch das Wissen bereitstellen, daß dem jungen Menschen hilft, die Informationsfülle, der er täglich ausgesetzt ist, zu verarbeiten. Vor diesem Hintergrund müssen die nur vom Sparsamkeitsdiktat veranlaßte Bastelei an der Stundentafel an den Berliner Schulen und die Überlegungen zur Einführung des 12jährigen Durchlaufs als dilettantisch und leider nicht problemgerecht eingestuft werden.

Der schulische Schlendrian

In vielem, was das Papier an Phänomenen des Schulalltags beschreibt, hat die Autorin überwiegend recht. Es gibt die Lehrer, die ihren Beruf als Job begreifen, die ihn lustlos und ohne Engagement ausüben. Es gibt die Lehrer, die über Konflikte vor ihren Augen geflissentlich hinwegsehen, in der Hoffnung, es werde sich schon jemand darum kümmern. Es gibt die Lehrer, die in den vielen kleinen Dingen des Schullebens (Papier und Dreck auf dem Boden, rüpelhafter Sprachgebrauch, Unpünktlichkeit etc.) nicht beharrlich und konsequent genug erzieherisch arbeiten. Der Ursachen dafür sind viele: Neben der oben beschriebenen Überforderung durch neue berufliche Anforderungen trägt sicher die beamtenrechtliche Absicherung die Hauptschuld. Der Beamtenstatus ist tendenziell leistungsfeindlich und verführt zur Trägheit. Solange man sich ohne Konsequenzen durch den Schulalltag hindurchwursteln kann, wird der Kollege, der im Umgang mit Schülern Probleme hat, bei der obligaten Fortbildung lieber den Kurs „Ornithologie für Fortgeschrittene“ oder „Die Merseburger Zaubersprüche in der 11.Klasse“ wählen und nicht das Seminar Persönlichkeitstraining, um an seiner eigenen Person zu arbeiten, damit er seine Empathiefähigkeit erhöhen kann.

Die Ursachen der jugendlichen Gewalt

Das Papier bezieht sich eingangs ausdrücklich, ohne die Namen Mölln und Rostock zu erwähnen, auf die Gewaltausbrüche bei rechtsextremen Jugendlichen. Sein Hauptfehler ist, das typische Täterprofil dieser Jugendlichen außer acht zu lassen und so zu tun, als seien die Jugendlichen dafür gleichermaßen anfällig. Nur durch diese Pauschalisierung läßt sich die Beweisführung, Schule habe durch den Laisser-faire-Stil der Lehrer ihren Anteil an Schuld, durchhalten. Inzwischen gibt es eine Reihe von Veröffentlichungen über den typischen gewalttätigen Jugendlichen. Zu über 95 Prozent kommen sie aus hochgradig gestörten Familien der Unterschicht. Sie haben fast durchweg in der frühkindlichen Erziehung Gewalt als Mittel der Kommunikation kennengelernt. Wenn man so will, haben sie eine extrem autoritäre Erziehung mit Schlägen, Anbrüllen, Herabsetzung der eigenen aufkeimenden Persönlichkeit durchlaufen. Sie haben gerade das wesentliche Mittel der sogenannten „antiautoritären“ Erziehung, nämlich liebevolle Aufmerksamkeit und Ermutigung, nicht erfahren. Deshalb ist ihre Ich-Schwäche der wesentliche Antrieb für die Suche nach starken Ideologien, Führern und für das Zuschlagen. Der Erziehungswissenschaftler Dr.Jens Weidner hat bei der Befragung jugendlicher Gewalttäter aus der Jugendanstalt Hameln festgestellt, daß die Gewalt die Funktion hat, durch die totale Niederlage der Opfer ein Gefühl der Überlegenheit zu erlangen, das die Minderwertigkeitsgefühle zumindest temporär ausgleichen kann. Er nennt diese Ambivalenz die Haltung „zwischen Rambo und Versager“.

Wilhelm Heitmeyer hat in seiner Studie über rechtsextreme Jugendliche sozialpsychologische Bedingungen genannt, die diese Jugendliche ins rechtsextreme und gewalttätige Fahrwasser treiben. Es sei in erster Linie die Suche nach Verhaltensgewißheit in einer sozialen Umgebung, die als zu konkurrenzhaft, zu individualisiert und zu undurchschaubar empfunden wird. Die Auflösung traditioneller Milieus, zum Beispiel bei den Kernschichten der Arbeiter, führe zu Vereinzelungserfahrungen, die durch die Suche nach neuen Zugehörigkeiten kompensiert würden. Dabei biete sich das rechtsextreme Milieu, das über das leistungsunabhängige Kriterium der nationalen Zugehörigkeit Gemeinschaft herstelle, geradezu an. Die rechtsextremen Jugendlichen haben alle die Schule durchlaufen. Offensichtlich hat sie es nicht vermocht, die Ich-Schwäche und die frühkindlich erworbene Bindungsunsicherheit zu kompensieren. Sie konnte das Bedürfnis nach Halt, Geborgenheit und Heimat nicht befriedigen. Was hat sie falsch gemacht?

Was kann Schule dagegen tun?

Die Berliner Schulpsychologin Bettina Schubert hat in den letzten Monaten in Seminaren und Vorträgen eine Art Interventionsprogramm für den schulischen Umgang mit solchen Jugendlichen entwickelt. Es verlangt vom Lehrer in erster Linie Warmherzigkeit und positives Interesse, dann aber auch feste Grenzen für unakzeptables Verhalten bis hin zu konsequenten Sanktionen bei Regelverletzungen. Zentral sei dabei, daß der Lehrer es lerne, seine Aversionen gegen das Fascho-Gehabe zu zügeln und die Kinder seelisch mit seiner menschlichen Wertschätzung zu unterstützen. In vielen Fällen hat sich nämlich gezeigt, daß „militanter Antifaschismus“ eher kontraproduktiv ist. Er ist reine pädagogische Kraftmeierei. Er verschafft dem Lehrer zwar die Genugtuung einer „gewonnenen“ Diskussion, läßt den Schüler jedoch in einem Gefühl der Ohnmacht und des Verlierens zurück. Überhaupt greifen Argumente auf der kognitiven („Wißt ihr nicht, wieviel die Ausländer zum Bruttosozialprodukt beitragen?“) oder der moralischen Ebene („Wollt ihr euch in die Reihe mit Hitler stellen, der Millionen Menschen auf dem Gewissen hat?“) nur schwach. Die Abwehrhaltungen dagegen speisen sich stets aus dem Gefühl der eigenen Minderwertigkeit, die er ja gerade durch eine „starke“ Meinung zu kompensieren sucht. Diese Haltung ist nur aufzubrechen, wenn diese Jugendlichen sich in einem längeren Prozeß der Hinwendung zu ihnen als Person akzeptiert fühlen. Verbale und tätliche Aggressivität von Schülern müssen in jedem Fall als Regelverletzung bezeichnet und als unangemessen zurückgewiesen werden. Hier ist es besonders wichtig für den Lehrer, daß er die Ablehnung der Gewaltinhalte nicht mit einer Herabsetzung des Jugendlichen, der Haß und Gewalt predigt, verknüpft. Dies kann der Lehrer am besten so schaffen, daß er nach dem klaren NEIN-Signal das Fehlverhalten im Einzelgespräch und eventuell auch vor der Klasse noch einmal bespricht und dem Schüler Hilfe anbietet. „Gespräch und Kontakte sind die einzigen Alternativen zur Gewalt.“ (Thea Bauriedel in Psychologie heute, 2/93) Nur so kommt der aggressive Schüler aus der Beziehungsfalle heraus, die immer wieder so funktioniert, daß der Zurechtgewiesene das Etikett „Gewalttäter“ akzeptiert und weiterhin danach handelt. Das Stigma wird dann zum provokaten Schmuck. Das wäre dann genau das Gegenteil von dem, was Erziehung wollen kann.

Der Autor arbeitet als Oberstudienrat in Berlin