Trau keinem über 30

In allen vier Ecken soll Fußball drin stecken. Seit vor dreißig Jahren die Bundesliga geboren wurde, schreiben sich Männer diesen Spruch besonders gerne ins Poesiealbum. Heute abend ist es wieder soweit: Anpfiff zur neuen Saison.

Der erste Schrei des Neugeborenen kam (am 24. August 1963) aus Bremen. Nur wenige Augenblicke nach der Geburt hatte Dortmunds Timo Konietzka den Lungen der Zuschauer den ersten Torjubel der Bundesliga entlockt. Den großen Moment im Kreißsaal Weserstadion bannte indes keine Kamera. So blieb das erste laute Lebenszeichen Privatsache – wie im richtigen Leben auch.

Die Neugier der Menschen auf das attraktive Baby war riesig – nie kamen mehr Zuschauer als in den ersten beiden Jahren. Vieles war anders geworden: Helmut Rahn, im Leben zuvor noch als „Held von Bern“ gefeiert, wurde als erster des Feldes verwiesen. Als B. eingeschult wurde, 1970, wurde Rechnen Pflichtfach: Damit keiner mehr, wie der Altinternationale Szymaniak, beim Vertragspoker ein Viertel mehr Gehalt fordert statt nur ein Drittel. Und Religion wurde gepaukt: Auf Schalke wehte die Fahne „An Gott kommt keiner vorbei – außer Libuda.“ In den Toren standen „Fußballgötter“.

In der Bökelberg-Schule kam es 1971 zur bis dahin schlimmsten Verletzung: Ein Tor brach sich das rechte Bein und mußte komplett amputiert werden. Schalker und Bielefelder Störer wurden nicht versetzt, als sich B. im Stadium der Zweitklassigkeit (Grundschule 1971) den erstklassigen B.-Skandal leistete. Die Schmuddelkinder wollte niemand spielen sehen – und die Stadien leerten sich. Der WM-Titel 1974 erlaubte fortan den Besuch des Gymnasiums. Der Kaiser kam mit dem Pensum nicht mehr mit und verließ B. 1977 als Untertertianer Richtung Amerika.

Es waren die Jahre, als B. ihre verspielte Phase hatte. Listig und lustig tollten niederrheinische Fohlen über die Spielfelder. Eines kam dafür sogar extra im Elchgang aus der Tiefe des Raumes angeschlurft. Streber aus München waren die Widersacher rheinischer Ausgelassenheit und prägten titelsammelnd einen nüchterneren Stil. B. kam in die Pubertät, und einige wichtige Männer des Schriftstellertums widmeten sich B.-verliebt der B.-Ballerei: Ror Wolf formulierte blendend und bald fabulierte auch Eckhard Henscheid „sowieso“ (Henscheid) und „sehr genau“ (Henscheid).

1981, zur Zeit der Reifeprüfung, war das Kind erwachsen geworden. Der Ernst des Lebens stand vor dem Tor. In Bremen fand die heftigste Schlacht des 30jährigen Krieges statt: Tatendurstig schlitzte der halbstarke Werderaner Siegmann dem Friedensaktivisten Lienen den Oberschenkel auf. Dabei ist B. als solche hochsozial: Ihr damals amtierender Vater, Hermann Neuberger, der sich schon 1978 in Argentinien intensiv um die arme Minderheit der Juntagenerale gekümmert hatte, erklärte 1986 bei der WM in Mexiko, daß seine 20 einheimischen Billiglohnangestellten immer vor ihm essen dürfen: „Das habe ich als Reiter gelernt“, sprach stolz der Neuberger, „zuerst wird das Pferd versorgt.“

Ein anderer Erziehungsberechtigter, Spielleiter Walter Baresel, versuchte weiterhin erfolglos die Pokal-Traumpartie MSV Du-Iss- Burg gegen VfL Boch-Humm auszulosen. Spielvermittler Ernst Huberty („Mr.B.“) wurde bald, spesenbedingt, zum Tor des Monats und mußte einem rundbärtigen Manne weichen, der B. seitdem als Erziehungsinstanz für Demut nutzt: Geduldig müssen sich Millionen Sportschau-Freunde mit Gutnabendallerseits foltern lassen (aktueller Stand bei Redaktionsschluß: 1.811mal).

Fortan widmete sich B. ihrem Germanistikstudium und konnte die deutsche Sprache vielfältig erweitern: um Vollspann und Bananenflanke, um das Stellungsspiel einer Gurkentruppe und die Schokoladenseiten beinharter Beinschüsse. Nur im Fußball geht angeschnittenen Bällen nicht die Luft aus, und ganze Räume können dichtgemacht werden. Und der Kanzler sprach nach einer verlorenen Landtagswahl, B. zum Vorbild: „Wir haben eine Niederlage errungen.“ Nach Unabsteigbarkeit folgt jetzt womöglich die Unwiederaufsteigbarkeit. Die Liebe zur Dame B. erfaßt alle. Im vergangenen Jahr bekannte sich Walter Jens zum persönlichen Kümmernis-Gau: „Ich habe soviel Arbeit, daß ich seit Wochen samstags nicht mal mehr B. gucken kann.“

Mit der neuen Saison ist B. im zunehmenden Stadium der Reife, mit 30, jetzt spielberechtigt für die Alten Herren. Die Vernunftehe mit dem Privatsender Sat.1 sorgt für Millionenmitgift und reichlich (lähmenden und unattraktiven) Speckansatz. Schon zu Zeiten der Geburtswehen hatte der große B.- Philosoph Herberger gewarnt: „Die BMWs machen den Fußball kaputt.“ Er meinte Bäcker, Metzger und Wirte mit ihren Zuwendungen. Heute würde er Banken, Medien und Wirtschaftsbosse verfluchen.

Massenspektakel B., das Monopoly als große Ballschau, wird immer noch unter Sport gehandelt. Die Stiefeltern an der Spitze entstammen wie ehedem einer Greisenauswahl. Zuletzt leitete ein medienwirksam frömmelnder Kartoffelhändler aus Aachen die Ära des Ägiden Egidius ein. Die alten Männer verweigern ihrem Kind bis heute die Eigenständigkeit. Sie trauen keinem über 30. Bernd Müllender