Umwege

■ Zum Tod des amerikanischen Musikers Jay Oliver

„Es sind die Nebensächlichkeiten im Leben, die dich zu dem Musiker machen, der du bist. Nicht der Starrummel, sondern die Suche“, konstatierte der US-amerikanische Kontrabassist und Komponist Jay Oliver in einem seiner letzten Interviews — und meinte damit all die notwendigen Umwege, die er bis zum Schluß gemacht hat. Einer Kindheit in Kansas City als Tenor im liturgischen Boystown Choir folgten Etappen als Fotolaborant, Kellner, Discjockey, Nachrichtensprecher, Krankenwagenfahrer, Reporter und – ganz nebenbei – ein Studium der Politologie (mit Nebenfach Musik). Vom Gesang über die Zwischenstationen Posaune und Schlagzeug landete er bei dem Instrument, das fortan sein Leben dominieren sollte – dem Kontrabaß – es war „Liebe auf den ersten Blick“.

Nach Jahren in New York beschloß er, den USA vorerst den Rücken zu kehren, lebte in der Schweiz und Paris und landete schließlich 1983 in Berlin, einer Stadt, mit der ihn bis zum Schluß eine Art Haßliebe verband. In der Nacht vom 2. auf den 3. August starb der knapp 51jährige Musiker völlig unerwartet in seiner Kreuzberger Wohnung.

Wer Jay Oliver auf der Bühne erlebt hat, weiß, welches Risiko er jedesmal bereit war einzugehen, wie er mit seiner Musik Innerstes bloßlegte, Gefühle zeigte in Kompositionen und Improvisationen – ein seltenes Ereignis auf europäischen Jazzbühnen. Noch im Free Jazz hatte er Spaß daran, Reste einer Musikgeschichte aufblitzen und wieder verschwinden zu lassen, der er zeitlebens verpflichtet blieb: Swing und Klassik, Musical und Kirchenchor. Aber natürlich war Jazz der stärkste Magnet; Oliver hatte das Gefühl, damals in Kansas City im Zentrum der Musik zu leben; die Stadt war mit Musikern wie Charlie Parker, Count Basie und Lucky Thompson geradezu überfüllt. Mit unzähligen Größen hat er seitdem gespielt – mit Frank Wright, Keith Tippet, Enrico Rava, Steve Lacy, Julius Hemphill, Wayne Horvitz, Sonny Murray – doch seit er in Berlin lebte und nicht mehr der aus New York herüberjettende Musiker war, wurde es zeitweise sehr still um ihn. Die improvisierte Musik, in der er sich jahrelang betätigt hatte, hatte ihn genauso ermüdet wie der jahrzehntelange Kampf ums Überleben: „Ich bin es müde, immer genial sein zu müssen. Es interessiert mich nicht mehr, mir mein Hirn in einem Pub rauszublasen, und die Leute schauen mir zu. In der freien Musikszene wird es mißbilligt, wenn deine Musik tanzbar oder harmonisch ist, aber was ist schlecht daran, wenn dir eine Melodie im Kopf bleibt?“ Anna-Bianca Krause

Am 30.9. findet im Haus der Kulturen der Welt ein Memorialkonzert zu Ehren von Jay Oliver statt.