Das Radio als Jukebox

Der neue Hörfunk in Osteuropa orientiert sich am schnellen Profit, nicht am Programm  ■ Von Peter Widlok

Der wilde Osten hat den Wilden Westen abgelöst, auch im Hinblick auf die elektronischen Medien. Wie beim Goldrausch vor hundert Jahren besetzen Glücksritter vor allem aus dem Ausland die Claims, betreiben Lobbyarbeit, um an die gewinnversprechenden Minen heranzukommen. Und vor allem: Sie haben das Kapital, um mit modernerem Werkzeug als die Einheimischen das Beste aus dem Boden beziehungsweise aus der Luft zu holen. Man kann sich auch in Osteuropa die Warnschilder vorstellen, wie sie heute noch im Yukon vor den Eingängen zu den Goldminen zu sehen sind: „Smile, but keep out!“

Die einflußreichen Besitzer wollen unter sich bleiben, dulden keine Konkurrenten neben sich – und können sich dabei der Unterstützung der Regierung sicher sein. Und interessanterweise sind oftmals die Schürfrechte – sprich: Lizenzen – offiziell noch gar nicht vergeben ...

Diejenigen, die sich wie die Moskauer Sender Radio 101 oder Radio Maximum früh um den Markt gekümmert haben, stehen nun ausgesprochen gut da: Mit ausländischem Risikokapital ausgestattet, wird von Radio Maximum für die „konsumstarke Bevölkerungsgruppe von 19 bis 49 Jahren mit hohem Bildungsniveau und überdurchschnittlichem Monatseinkommen“ Programm gemacht, wie es in dem deutschsprachigen Prospekt heißt. Der 10.000-Watt- Sender im Zentrum Moskaus garantiert eine immense technische Reichweite. Ein „gut gemixtes Musikprogramm mit internationalen und nationalen Hits, mit volkstümlichen Hitparaden, Oldies, Klassik, Pop und Rock“ soll Hörerinnen und Hörer binden. Das Wortprogramm in Englisch, Deutsch und Russisch zielt sowohl auf die ausländischen BewohnerInnen Moskaus – als auch auf jene Moskvitschi, deren West-Sehnsucht (vorerst) durch das Einschalten von Radio Maximum gestillt werden soll. Die Ausrichtung des Kommerzsenders ist eindeutig: „Radio Maximum ist nützlich für Geschäftsleute: Konjunktur, Wirtschaft, Management, Geld und Kapital, Finanzen, Devisen, Märkte und Unternehmen, Börsentrends – das gehört zum Programm dieses amerikanisch-russischen Joint- venture“, heißt es in der Eigenwerbung.

Osteuropas Massenmedien hatten früher eine politisch-stabilisierende Funktion als Propagandawerkzeuge der jeweiligen Regierungen. Eine von Pluralität geprägte Medienordnung war unbekannt. Dieser Anspruch an Medien in demokratisch verfaßten Gesellschaften ist auch heute noch nicht viel weiter entwickelt. Im Gegenteil: Wieder verfallen Regierungen, nun mit demokratischem Mandat, in die alten Fehler: Medien, und hier besonders der Rundfunk, gelten, wie früher, als Sprachrohr der Regierung. Die läßt nichts unversucht, die Kontrolle über die Medien zu behalten oder zurückzugewinnen. Und die Opposition tut nichts dagegen, weil sie auf den nächsten Wahlsieg und damit auch auf Medienmacht hofft.

Das geschieht nicht immer so dreist wie in der neuen tschechischen Republik. Dort plant die Regierung explizit, neben dem öffentlich-rechtlichen und dem privatwirtschaftlich verfaßten Rundfunk nun tatsächlich auch einen Regierungsfunk zu installieren. Der tschechische Medienratsvorsitzende Daniel Korte ist im Juni aus Protest „gegen Einflußversuche der Regierung“ zurückgetreten. Ein Faktum, so Korte, das „in allen postkommunistischen Staaten zu beobachten ist“.

Neben die politische Funktion von Medien tritt nun eine völlig neuartige Funktion: Medien, die noch niemals eine in unserem Sinne ökonomische Funktion hatten, werden auf einmal zu einem relevanten wirtschaftlichen Faktor. In den meisten Staaten Osteuropas schient dies die eigentliche und ausschließliche Rolle des neuen Radios zu sein.

Estland: Das erste Lokalradio im baltischen Staat begann im März 1990 in der Stadt Vöru mit dem Sendebetrieb. Damals gehörte Estland noch zur Sowjetunion; die Lizenz kam aus Moskau. Die einzige Möglichkeit, lokale Hörfunkprogramme zu produzieren und auszustrahlen, bestand darin, die Frequenz und den Sender von Eesti Raadio (ER) zu nutzen. Zwei jeweils zwanzigminütige Fensterprogramme waren deshalb für andere Anbieter verfügbar. Bereits ein Jahr später, 1991, nutzten zwei weitere Sender diese Möglichkeit und strahlten ihre Programme über ER 2 aus. Im Herbst 1991 startete dann mit Raadio Tartu das erste „richtige“ Lokalradio; mit einem Vollprogramm, 19 Stunden täglich aus der nach Tallinn zweitgrößten Stadt des Landes. Raadiu Tartu ist heute einer von zwölf Anbietern, ein Sender, der Wert vor allem auf lokale Informationen legt. Der Programmdirektor des Senders, Hando Sinisalu, beschreibt das Radio als „eine Mischung aus öffentlich-rechtlichem, aus kommerziellem und aus alternativem Funk“. Werbung wird akzeptiert, weil, so Sinisalu, „ansonsten der Sendebetrieb völlig unmöglich wäre“.

Die zwölf neuen Sender – sechs davon sind privat-kommerziell organisiert – realisieren ihren Programmbetrieb, ohne daß es ein Rundfunkgesetz gibt. Dies wird im Herbst dieses Jahres erwartet.

Die Situation des Lokalradios in Estland ist offenbar prototypisch für die Umwälzungsprozesse der elektronischen Mediensysteme in Osteuropa: Auch ohne gesetzliche Regelungen entstehen Sender, in der Regel privatwirtschaftlich verfaßt. Fast alle sind von Einnahmen aus der Werbung abhängig, auch jene, die sich eigentlich als nicht- kommerzielle, journalistisch ambitionierte Community-Radios verstehen wie beispielsweise „Raadio Tartu“. Das Programmangebot ist oft ausländischen Modellen entlehnt, vor allem US-amerikanischen Formatradios.

Die estnische Besonderheit im Gegensatz zu anderen, größeren Ländern ist, daß Kapital aus den USA, Großbritannien, Frankreich oder Deutschland so gut wie nicht eingesetzt wird. Hando Sinisalu erläutert: „Für ausländische Investoren sind die Märkte einfach zu klein.“

Polen: Seit Dezember 1992 regelt hier ein Rundfunkgesetz das Nebeneinander von privatem und öffentlich-rechtlichem Funk. Nach einer jüngsten Schätzung der Zeitung Gazeta Wyborcza senden 56 private Radio- und 20 TV-Stationen. Zum 1. Juli 1993 mußten jedoch alle Privatanbieter ihre Sendungen einstellen und die Lizenzerteilung sowie die Zuweisung von freien Frequenzen abwarten. Die Regierung versucht mit dieser unpopulären Maßnahme, den Wildwuchs zu begrenzen und neu zu ordnen.

Denn nicht nur die klassischen Piratenradios, sondern auch Sender mit einer zeitlich befristeten Lizenz, unter ihnen das bekannteste polnische Privatradio Radio Zet in Warschau, mußten den Sendebetrieb vollständig einstellen. Nur die Stationen, die direkt von der katholischen Kirche betrieben werden, sind von diesem strikten und weltweit einzigartigen Reglement ausgeschlossen. Nun muß auf eine offizielle Entscheidung des polnischen Rundfunkrats – frühestens im Herbst – gewartet werden.

Gewinner dieser Regelung ist zweifellos der ehemals staatliche, jetzt öffentlich-rechtliche Rundfunk Polskie Radio i Telewizja, kurz: Radio Polska. Er scheint generell in seinem Bestand gesichert.

In Polen zeigt sich ein Trend, der auch für andere Länder gilt: „Vor allem jüngere Hörerinnen und Hörer schalten sich sehr gezielt in die Programme der neuen Privatstationen ein“, meint Jedrzejewski. Die verstehen sich – nicht nur – in Polen offenbar nur noch als Jukebox: fast ausschließlich Musik nach amerikanischem Format, Werbung so viel, wie zu akquirieren ist, doch Information ist Mangelware. Profit dominiert das Programm.

Rußland: Der politische Konflikt zwischen Präsident Boris Jelzin und dem Volksdeputiertenkongreß wirft nur ein kleines Schlaglicht auf die Schwierigkeiten, vor denen jene stehen, die Hörfunk und Fernsehen in dem größten osteuropäischen Land auf weitgehend transparentem, juristisch sicherem Grund und Boden haben wollen. Für die künftige Struktur und Organisation der elektronischen Medien in Rußland erwarten Beobachter eine Angleichung an das französische System. Jelzin als strikter Befürworter eines zentralistisch geführten Staats hat zumindest ein großes Interesse daran, auch den Rundfunk zentralistisch zu „führen“. Die Tatsache, daß als oberste Institution eine Art Bundesmedienanstalt geplant ist, angeglichen an das Vorbild der Federal Communications Commission (FCC) in Washington, gilt als weiteres Indiz hierfür. Angesichts der geographischen und ökonomischen Dimension Rußlands räumen Experten deshalb dezentralen, kleinräumigen Strukturen im Medienbereich kaum Chancen ein.

Das russische Rundfunkgesetz, seit Beginn 1992 in der Diskussion, ist noch immer nicht verabschiedet worden. Aber auch ohne Mediengesetz ist die Lage in Moskau der in Warschau oder Prag verwandt: Eine Vielzahl privater Hörfunkanbieter hält in einer rundfunkrechtlichen Grauzone ein profitables Terrain besetzt. Rund 15 private Anbieter senden bereits in der russischen Hauptstadt, hauptsächlich Musik und Werbespots. DJs dröhnen mit imitiertem US-Slang den Kids die Ohren voll.

Wie so ein Engagement im einzelnen verläuft, berichtet Jevgenij Borisov von Radio Maximum: Das US-Network Westwood One und die anderen beiden nordamerikanischen Teilhaber, die Firmen Harris und Story First Distribution, haben den „Machern“ in Moskau acht Millionen Dollar Risikokapital zur Verfügung gestellt. Einzige Auflage der Geldgeber: Nach spätestens zwei Jahren muß sich das Radioengagement rentiert haben.

Journalistisch ausgerichtete Radios sind die Ausnahme. Nur Radio Echo Moskau hat in der russischen Hauptstadt und darüber hinaus einen guten Ruf als weitgehend unabhängiger Hörfunkanbieter, der überdies nicht in der Hand von ausländischen Geldgebern ist. Echo Moskau war eines der ersten neuen Medien in Moskau. Gründer waren unter anderen der Stadtrat von Moskau, das Universitätsinstitut für Journalismus sowie die Zeitschrift Ogonjok. Peter Lewis, Radioexperte aus London, hat den Sender als „Sprachrohr der demokratischen Opposition“ bezeichnet. Da ist was dran: Mit einer Wort-/Musikmischung von 40 zu 60, also einem erheblichen Anteil an Wortprogrammen, ist das Echo von Moskau mit seriöser Berichterstattung („BBC-ish“) weit zu hören.

Welche größten Probleme hat das ambitionierte Radio derzeit?

Auf dem Wunschzittel von Tatjana Pelipeijko, festangestellter Mitarbeiterin und zusätzlich im Community Radio-Weltverband AMARC aktiv: erstens eigene Senderanlagen und eine bessere Studiotechnik; zweitens mehr Platz in einem renovierten Gebäude; und drittens, so Pelipeijko wörtlich, „daß nicht mehr die Nachrichtensendungen von Echo Moskau von Konkurrenten mitgeschnitten und ausgestrahlt, also schlicht geklaut werden“.