Der mißglückte Judo-Umschwung

Vier Jahre nach 1989 legt der britische Osteuropa- und Deutschlandkenner Timothy Garton Ash sein neues Buch vor/ Nationale deutsche Interessen und europäische Phraseologie  ■ Von Christian Semler

Für Politiker wie für Historiker ist die Versuchung fast unwiderstehlich, die Geschichte ihrer Zeit so zu schreiben, als sei sie gradlinig, majestätisch und unangefochten zu jenem glücklichen Ende gelangt, an dem sie selbst ihren bescheidenen Anteil hatten. Post hoc, ergo propter hoc. Alle Wechselfälle deutscher Geschichte waren nach 1871 nur als Material für den herrlichen Bau des neuen deutschen Reiches gedeutet worden. Einen ähnlichen, nach rückwärts operierenden Determinismus sehen wir auch nach 1990 am Werk. Die führenden Staatsleute der Epoche samt ihrem wissenschaftlichen und Medienanhang haben stets und unverrückbar das Ziel der deutschen Einheit im Auge gehabt, wie sie auch immer klarsichtig erkannten, daß dem Realsozialismus auf deutschem Boden nur eine kurze Lebensspanne vergönnt sein würde. Falls sie etwas anderes geschrieben oder gesagt haben sollten, war das nur Taktik, Resultat der Vorsicht vor einem übermächtigen Gegner, der, nachdem er die DDR als Geisel genommen hatte, die deutschen Politiker nach Belieben erpressen konnte.

Vor allem war es der umsichtigen, konstanten und beharrlichen deutschen Strategie zu verdanken, daß die Spaltung Deutschlands wie des europäischen Kontinents endlich überwunden werden konnte. Bloß, um welche Strategie hatte es sich eigentlich gehandelt? War es die langfristige Unterminierungsarbeit sozialdemokratischer Entspannungspolitik, die die Sowjets schließlich dazu brachte, von der Breschnew- auf die Sinatra-Doktrin („I did it my way – so do it your way“) umzuschwenken, oder waren es die Pershing-Raketen, in denen sich westliche Standhaftigkeit manifestierte? Oder irgendeine Mischung? Vielleicht aber war es – schreckliche Vorstellung! – weder das eine noch das andere, sondern waren es innersowjetische Widersprüche, auf die der Westen zwar einigen, die deutsche Ostpolitik aber nur marginalen Einfluß gehabt hatte?

Noch sind viele der wichtigsten Papiere unter Verschluß, die aufschlußreichsten Memoiren noch nicht geschrieben, die Staats- und Parteiarchive der DDR und der Sowjetunion noch nicht erschlossen. Aber schon jetzt besteht die faszinierende Möglichkeit, das, was die westlichen Staatsleute, die deutschen zumal, gegenüber ihren östlichen Kontrahenten so in Szene setzten, auch aus deren Blickwinkel zu beurteilen. Denn die Moskauer Realsozialisten führten nicht nur getreulich Protokoll, sie informierten auch (wohldosiert) die Bruderparteien, geizten nicht mit Einschätzungen, Ratschlägen und, wenn es sein mußte, mit Ukassen. Die Sehnsucht nach Devisen wie nach Anerkennung durch die neuen, westlichen Freunde haben einen paradoxen Zustand herbeigeführt: die östlichen Quellen sprudeln intensiver als die westlichen. Wir werden aus diplomatischen und Geheimdienstpapieren der Sowjets und der SED über Aktionen „unserer“ Politiker informiert, zu denen sich diese öffentlich noch gar nicht geäußert haben. Der Polemik, ja Verdächtigungen aller Art ist ein unbegrenztes Feld eröffnet.

Sich an diesen Spielchen zu beteiligen liegt dem britischen Historiker und Journalisten Timothy Garton Ash ziemlich fern. Er hat kein Gesicht und keinen Einsatz zu verlieren, was allerdings nicht bedeutet, daß er unbeteiligt wäre. Ash gehörte in den 70er und 80er Jahren zu den ganz wenigen Beobachtern des Zeitgeschehens, die ihre Zeit nicht damit vertrödelten, Brosamen aufzulesen, die aus den Arkana der Macht für den westlichen Gebrauch ausgestreut wurden. Er war nicht ängstlich darauf bedacht, seine Schreibe der Sorge anzupassen, daß die Genossen X und Y endlich im Zentralkomitee ihren großen Reformcoup landen könnten. Er war weder partei- noch staatsfixiert. Ihn interessierte, was vom Gros der deutschen Politiker und Journalisten souverän ignoriert wurde: politische Bewegungen in der Gesellschaft. So wurde er zum Zeugen und Dolmetscher jener scheinbar Ohnmächtigen, die sich daran gemacht hatten, das Gewebe der „zivilen Gesellschaft“ in den Partei-Staaten des Ostens neu zu knüpfen. Er liebte diese tapferen und klugen Leute, war ihnen aber nicht verfallen. Er hat 1989, als man ihn den John Reed der osteuropäischen Revolutionen nannte, den Triumph der Dissidenten geteilt, aber nur wenige von ihren Illusionen.

Ash ist Ironiker, liebt das Paradoxe. Früher oder später mußte er sich der Geschichte der deutschen Ostpolitik zuwenden. Erfreulicherweise hat er zwei Jahre seines nicht enden wollenden Dialogs mit Ostmitteleuropas Demokraten geopfert und uns schon jetzt, keine vier Jahre nach Mauerfall, das Resultat seiner Forschungen vorgelegt: „Im Namen Europas – Deutschland und der geteilte Kontinent“

„Im Namen Europas“ – leitmotivisch zitiert Ash den Satz Bismarcks „Ich habe das Wort Europa immer im Munde derjenigen Politiker gefunden, die von anderen Mächten etwas verlangten, was sie im eigenen Namen nicht zu fordern wagten“. Von Adenauer bis zu Kohl wurde Politik in Deutschland als europäisches Geschäft betrieben – international vernetzt, die unterschiedlichen Interessenlagen synchronisierend, auf Konsens bedacht, ja geradezu harmoniesüchtig. Aber war diese Internationalisierung, diese auf Europa zielende und in ihm scheinbar aufgehende Politik nicht das einzige Mittel, um nationale Souveränität wiederzugewinnen, und war das Ziel der deutschen Einheit denn anders zu verkaufen als durch die feierliche Versicherung, man wolle das geteilte Europa wieder zusammenfügen?

Ash zweifelt nicht an der „westlichen“ Orientierung der meisten deutschen Staatsleute, nicht an ihrer Gesinnung. Was ihm suspekt erscheint, ist die Unwilligkeit (und Unfähigkeit?) der Deutschen, zwischen „globalen“, europäischen und spezifisch deutschen Interessenlagen zu differenzieren. Die deutsche Politik redete in einem Atemzug vom Weltfrieden, von der Abwendung der globalen Umweltkatastrophe, von der Notwendigkeit einer umfassenden Interdependenz, von der Aufhebung der europäischen Spaltung, um ein spezifisch deutsches Interesse zur Geltung zu bringen: Stabilität und Kontrolle in den internationalen Beziehungen, Fortführung der Entspannungspolitik gegenüber der Sowjetunion. Deshalb auch kam es den deutschen Politikern nicht in den Sinn, anläßlich der Proklamation des Kriegsrechts in Polen 1981 von einem objektiven polnisch-deutschen Interessengegensatz auszugehen. Bundeskanzler Schmidt, zu Besuch in Güstrow, kommentierte die Zerschlagung der Solidarność mit den Worten: „Herr Honecker ist genauso bestürzt wie ich, daß dies nun nötig war.“ Nötig, weil die Ost-West-Beziehungen stabil gehalten werden mußten. Aber (unausgesprochen) auch nötig, weil die Verhandlungen zwischen „Herrn Honecker“ und der BRD keinen Schaden nehmen durften.

Stabilität war der alles bestimmende Kernbegriff in der über dreißigjährigen Karriere der deutschen Ostpolitik. Stabilität und „Normalisierung“ inmitten anormaler Verhältnisse. Im Prinzip war das auch das Kriterium der anderen Westmächte, aber die Stabilitätspolitik – nicht nur die der SPD- Kanzler – hatte doch eine spezifisch deutsche Einfärbung. Sie war fast ausschließlich auf die UdSSR und über diesen Umweg auf die DDR orientiert. Ihr Adressat war stets die an der Macht befindliche Parteielite, und die sie leitende Vorstellung bestand unwandelbar darin, die Reform von oben und innerhalb des realsozialistischen Partei-Staats als einzig mögliche anzunehmen.

Unter diesen Voraussetzungen nahm das Stabilitätskriterium jene eigenartige, paradoxale, wenn man so will, dialektische Form an, die wie kein anderer Egon Bahr herausgearbeitet hat. Ash ist Bahrs schärfster Kritiker und gleichzeitig sein größter Bewunderer. Mit geradezu verliebter Penetranz zeichnet er die Konsequenz nach, mit der Bahr bis in die Novembertage des Jahres 1989 an der Notwendigkeit nicht nur der DDR, sondern des SED-Regimes festgehalten hat. „Aber es gab doch, wenn sie so wollen, Reformen!“

Für Ash war Bahr ein Judo- Kämpfer, der dem wesentlich stärkeren Gegenspieler Sowjetunion Hilfestellung bei einem Judo-Umschwung leisten wollte – und zwar in der Richtung, in der er, Bahr, sich bewegen wollte. Die Hauptregel für die erfolgreiche Anwendung dieses Tricks lautete: Man muß den Status quo anerkennen, um ihn zu überwinden. Aber daraus folgten zwei weitere Regeln: Man muß den Partei-Staat stärken, um ihn schließlich zu schwächen und — paradoxerweise — man muß die Demokraten im Osten ignorieren, um die Demokratie zu fördern!

Ash zeigt, daß diesen Volten seines Meisterdenkers eine einfache psychologische Verhaltensmaxime zugrundelag: ein schwacher Gegner, der über kein Selbstbewußtsein verfügt, kann seine eigenen Fehler nicht eingestehen, geschweige denn überwinden. Also gilt es, ihn hochzupäppeln. Was aber, wenn der Gegner angesichts allgemeiner Anerkennung und kontinuierlicher, psychologisch-finanzieller Aufbauhilfe überhaupt nicht daran denkt, in sich zu gehen, sondern weiterwurschtelt? Wenn die Kredite dem schwerindustriellen Moloch in den Rachen geworfen oder zwecks Systemstabilisierung für den Kauf von Konsumgütern verwandt werden (Kadar in Ungarn, Gierek in Polen)? Oder wenn die Machtelite angesichts deutscher Finanzspritzen jede Beziehung zur Wirklichkeit verliert und in Hybris endet (Honecker in der DDR)? Der Lehrsatz lautete, so Ash, Stabilisierung führt zu Liberalisierung. Nicht mal für Ungarn hat sich dieser Satz bewahrheitet. Überall führte Destabilisierung zur Freiheit.

Das Feld der Beziehungen zwischen ökonomischer und demokratischer Reform im Realsozialismus, speziell in der DDR, wird von Ash nur hinsichtlich der Auslandsverschuldung beackert. Ash ist nicht gerade Wirtschaftsexperte, und er beantwortet die Frage, ob es je eine Chance für die ökonomische Modernisierung der östlichen Systeme gab (und falls ja, ob dies zwangsläufig auf die politische Sphäre übergegriffen hätte), recht kursorisch. Für eine mögliche, aus den Konstruktionsfehlern der Ostpolitik lernende Entspannungspolitik Richtung Fernost – gegenüber China – wäre diese Fragestellung entscheidend. Aber mit Recht wendet sich Ash einem ihm näherliegenden Komplex zu: Was folgt im vereinten Deutschland auf die Ostpolitik?

Das Inspirierte an Brandts verschwommener ostpolitischer Rhetorik ist mit dem Tod des Meisters dahingegangen; geblieben ist das endlose Geschwafel, das Ineinanderlaufen der Begriffe, die Genscheriade. Die deutschen Politiker geloben unisono, ein europäisches Deutschland zu wollen, nicht ein deutsches Europa. Diese Thomas Mann entlehnte Sentenz erspart es nach Ash den deutschen Politikern, ihre Karten auf den Tisch zu legen. Was heißt europäisch, was Europa? Gehört Rußland dazu, und wenn ja, in welcher Form? Und vor allem, was sind genau Deutschlands Interessen in diesem Europa und wie sollen sie wahrgenommen werden?

Im forcierten Europäertum der Deutschen nach der Vereinigung deckt Ash die ersten Vorzeichen eines neuen, menschenfreundlich und hilfsbereit daherkommenden „ost-kolonisatorischen“ Bewußtseins auf. Wie gut solche Überlegenheitsgefühle mit der Angst vor dem Fremden einhergehen, blieb Ash, dem Freund und Kenner deutscher Kultur, zu analysieren erspart. Die „Ereignisse“ von Rostock, Mölln und Solingen lagen nach Redaktionsschluß.

Timothy Garton Ash: „Im Namen Europas, Deutschland und der geteilte Kontinent“, Hanser Verlag, München, 856 Seiten, 68 DM