■ Henryk Broder: Das deutsch-jüdische Patientenkollektiv
: Deutsche auf die Couch

Vor einigen Jahren hatte der Bremer Senator für Jugend und Soziales die Idee, schwer erziehbare bzw. gestrauchelte Jugendliche in einen Kibbuz zu schicken. Dort sollten sie resozialisiert werden. Die Atmosphäre, insbesondere der Gemeinschaftsgeist, der in einem Kibbuz herrscht, verbunden mit regelmäßiger Arbeit und einem „gesunden“ sozialen Umfeld, würden sich positiv auswirken. Leider mußte das Experiment aus Gründen, die mehr mit Bremer Lokalpolitik als mit den Regularien des Kibbuz-Lebens zu tun hatten, vorzeitig abgebrochen werden. Einige Beobachter erinnerte diese Art der Sozialarbeit an die in Deutschland beliebte Praxis, die eigenen Probleme jenseits der Landesgrenzen – gegen Entgeld – zu entsorgen. Haushaltsmüll wurde in die damals noch existierende DDR verfrachtet, radioaktiver Abfall nach Rumänien geschafft, und soziale Härtefälle sollten in einem Kibbuz weicherzogen werden.

Vor etwa zwanzig Jahren lernte ich eine junge, politisch aktive Frau kennen, die gerade das Tagebuch der Anne Frank gelesen hatte und entsprechend „erschüttert“ war. Das Schicksal des Amsterdamer Mädchens ließ ihr keine Ruhe, bis sie eines Tages beschloß, einen Teil der deutschen Schuld abzuarbeiten, im wahrsten Sinne des Wortes abzuarbeiten. Sie fuhr nach Israel und half ein paar Wochen lang in einem Kibbuz bei der Orangenernte. In dieser Zeit machte sie die unvermeidliche Erfahrung, daß Juden ganz normale Wesen sind. Sie hatte erwartet, Heilige zu treffen, die durch die Verfolgung geadelt worden waren. Und sie begegnete Menschen, die sich bei Tisch schlecht benahmen, ihr im vollbesetzten Bus zu nahe kamen und vom Leben im Kollektiv weniger begeistert waren als die aus Europa angereisten Erntehelfer. Die schlechte Behandlung der Palästinenser durch die Israelis tat ein übriges – ernüchtert und von allen Schuldgefühlen befreit, fuhr sie nach Deutschland zurück. Keine Selbsterfahrungsgruppe hätte ihr eine bessere, eine effektivere Therapie vermitteln können.

Eine ähnliche Erfahrung kann man bei vielen Israel-Touristen aus der Bundesrepublik beobachten. Kommen sie noch mit gedecktem Blick und gebeugtem Gang im Lande an, so verlassen sie den Staat der Juden nach kurzer Zeit erhobenen Hauptes und mit durchgedrückter Wirbelsäule: Von diesen Barbaren lassen sie sich, was Anstand und Moral angeht, nichts mehr sagen. Die sollen erst mal vor der eigenen Tür kehren, bevor sie den Deutschen Eizes geben, wie sie mit ihrer Geschichte und ihren Gastarbeitern umzugehen haben.

Der therapeutische Prozeß der inneren Entschuldung kann dann als erfolgreich betrachtet werden, wenn etwa Politiker und Journalisten nach ihrer Rückkehr laut darüber nachdenken, ob denn „die Juden aus ihrer Leidensgeschichte nichts gelernt haben“. Spätestens dann, wenn die Rede auf die „besondere deutsche Verantwortung für die Palästinenser, die Opfer der Opfer“, kommt, wird der Beweis erbracht, daß der Patient, wie bei jeder ordentlichen Therapie, in die Lage versetzt wurde, seine Hemmungen in produktive Einsichten zu verwandeln.

Im Frühjahr 1993 fand eine unheimliche Begegnung der empirischen Art in Israel statt. Eine Gruppe von neun Kindern gewesener Nationalsozialisten kam ins Land, um sich mit neun Kindern von Überlebenden der Endlösung zu treffen. Die Begegnung wurde von einem israelischen Sozialwissenschaftler organisiert, der sich seit langem mit den Biographien von Nazi-Kindern beschäftigt. In einer Art Laborversuch wurden die Kinder der Nazis und die Kinder der Überlebenden aufeinander losgelassen. Über den Inhalt der Konversation wurde Schweigen vereinbart. Bekannt wurde nur die Reaktion des wohl prominentesten Teilnehmers dieses Treffens: Martin Bormann jr., inzwischen 63 Jahre alt, Sohn des Hitler-Stellvertreters Martin Bormann, der auch für die Durchführung der „Endlösung“ zuständig war. Er habe gelernt, zwischen seinem Vater als Menschen und als politischer Gestalt zu differenzieren. Der Vater sei ein großartiger Mensch gewesen, über den Politiker könne nur Gott ein Urteil fällen.

Da dies inzwischen geschehen sein dürfte, können wir uns der Frage zuwenden, worin der eigentliche Reiz solcher Begegnungen begründet liegt. Worüber sollen sich der Sohn des Henkers mit der Tochter des Gehenkten im Beisein eines Dritten unterhalten? Der Sohn des Henkers könnte zum Beispiel sagen: Glaub' mir, nach der Hinrichtung war mein Vater fix und fertig. Die Tochter des Gehenkten könnte antworten: Meiner auch. – Damit hätten sie einen gemeinsamen Nenner gefunden. Aber das kann nicht alles sein. Begegnungen solcher Qualität müssen vor dem Hintergrund einer langen, komplizierten, unheilvollen und noch nicht abgeschlossenen Beziehung gesehen werden.

Wir schenken uns einen Exkurs in die Tiefen der deutsch-jüdischen Geschichte, überspringen die deutsch-jüdische Symbiose, wie auch die Frage, ob es sie überhaupt gegeben hat, und setzen da an, wo eigentlich alles vorbei war – die deutsch-jüdische Symbiose, der deutsche Humanismus und das jüdische Prinzip Hoffnung – im Jahre 1945. Da standen sich die Deutschen und die Juden als klar definierte Kollektive gegenüber: die Täter und die Opfer, die Verfolger und die Verfolgten. Die Lager waren klar, die Grenzen, die nicht überschritten werden durften, auch. Zwei Generationen später gibt es die alten Kollektive noch immer, aber sie definieren sich anders: Aus den Tätern wurden die Patienten, aus den Opfern die Therapeuten. Metaphorisch gesprochen könnte man sagen, die Juden haben eine riesige Couch hingestellt, und die Deutschen nehmen nun massenweise auf dem Möbel Platz.

Für die deutschen Teilnehmer dieses interaktiven Vorgangs gibt es mehrere Arten der Behandlung mit unterschiedlichen Intensitätsgraden. Als Einstieg genügt es, die Brutalitäten der Israelis in Palästina in der „Tagesschau“ zu verfolgen, um daraus den Schluß zu ziehen, gegenüber solchen Menschen brauche man kein schlechtes Gewissen zu haben. Wenn die Israelis den Palästinensern das antun, was die Nazis den Juden angetan haben, was eine überaus populäre Formel in Deutschland ist, dann muß der Kampf gegen den Nazismus den israelischen Verbrechen gelten und nicht der Bewältigung der deutschen Geschichte.

Als nächster Schritt empfiehlt sich der Eintritt in eine Ortsgruppe der christlich-jüdischen bzw. deutsch-jüdischen Gesellschaft. Hier hat man die Möglichkeit, leibhaftigen Juden zu begegnen, die allein durch ihre Anwesenheit signalisieren: Unsere durch Stacheldraht geteilte Vergangenheit führt uns geradewegs in eine gemeinsame Zukunft. Und die Deutschen ergreifen die jüdische Hand nur zu gern, um sich aus dem Sumpf ihrer Geschichte heraushelfen zu lassen. In besonders hartnäckigen Fällen hilft eine Israel-Reise, bei der sich ein israelischer Politiker wie Menachem Begin oder Dov Schilanski weigert, die deutsche Delegation zu empfangen oder auch nur einem Deutschen die Hand zu geben. Eine solche Kränkung zeigt, daß die Juden nicht versöhnungsbereit sind. In jedem dieser Fälle tritt eine mentale Entspannung ein. Das Bewußtsein, das Unmögliche versucht zu haben, tröstet über die Erfolglosigkeit des Bemühens hinweg.

Dazwischen gibt es eine Vielzahl anderer Möglichkeiten. Verteidiger der Menschenrechte sind bei der Tel Aviver Anwältin Felicja Langer an der richtigen Adresse, die seit einiger Zeit von Tübingen aus Israel als faschistischen Staat entlarvt. Deutsche Patrioten wenden sich dem Historiker und Co-Patrioten Michael Wolffsohn zu, der die Juden in der Bundesrepublik immerzu ermahnt, nicht mit der „Auschwitz- Keule“ um sich zu schlagen. In jedem Fall ist es stets von Vorteil, sich darauf berufen zu können, ein jüdischer Freund, Kollege, Journalist oder Professor habe dies oder jenes gesagt, was man selber als Nichtjude nicht sagen dürfe.

Was die deutschen Patienten in die Arme der jüdischen Therapeuten treibt, ist klar: das Verlangen nach Absolution. Wie bei einigen Naturvölkern die Angehörigen des ermordeten Opfers das Recht haben, den Mörder zu erlösen, ihn vor dem Henker zu retten, so suchen auch die Deutschen ihr verlorenes Seelenheil bei ihren Opfern. Was die Juden dazu bewegt, in diesem Spiel den ihnen zugedachten Part des Erlösers zu übernehmen, ist ebenso eindeutig: Zum erstenmal, seit sie sich den gelben Stern an die Kleider nähen mußten, bekommen sie die Gelegenheit, den Deutschen als Überlegene entgegenzutreten, sie haben jede Schlacht seit 1933 verloren und doch den Krieg moralisch gewonnen.

Und so ist an die Stelle der ehemaligen alldeutschen Volksgemeinschaft ein deutsch-jüdisches Patienten-Therapeuten-Kollektiv getreten, dessen Angehörige aufeinander angewiesen sind, wie ein Blinder und ein Tauber bei dem Versuch, gemeinsam eine sechsspurige Schnellstraße zu überqueren. Einige kommen dabei unter die Räder, andere erreichen erschöpft und verwirrt das rettende Straßenufer. Wie jener nach dem Krieg geborene Jude, der mit der Tochter eines ehemaligen SS- Mannes namens Adolf ein Kind namens Sarah produziert hat. Er hält es für seine Aufgabe, die Tradition des deutschen Judentums fortzusetzen, der deutsch-jüdischen Symbiose neues Leben einzuhauchen. In diesem Sinne gibt es noch viel zu tun. Packen wir es an!

Gekürzter Vorabdruck aus dem Mitte August bei Hoffmann & Campe erscheinenden Essayband Henryk M. Broders: „Erbarmen mit den Deutschen“