Learning English, Lesson One

■ Urs Widmer hat eine Liebesgeschichte geschrieben

Ist das die Midlife-crisis, oder geht es in der Schweiz so beschaulich zu, daß selbst einem so witzig- raffinierten Erzähler wie Urs Widmer nicht mehr viel einfällt, als nette, kleine Idyllen zu pinseln? Während Widmer in seinen Theaterstücken immer bösartiger mit seinem Ländlein umspringt und mit wasserdicht recherchierten, elegant verspielten Zeitstücken ein verlogenes Schwyzer Selbstbild nach dem anderen in die Luft jagt, werden seine Erzählungen immer harmloser. Nachdem er in seiner letzten Erzählung „Der blaue Siphon“ die Kindheit in schönstes Spätsommerlicht getaucht hatte, erinnert er sich diesmal mit einem melancholischen Seufzer an eine verflossene Liebe aus Jugendtagen. Wie im „Blauen Siphon“ spart der Erzähler auch diesmal nicht mit autobiographischen Anspielungen – noch dem kunstversessensten Leser soll unter die Nase gerieben werden, daß der Stoff, aus dem die Träume sind, dem sogenannten „echten Leben“ abgezapft wird. Mag sein, daß aus diesem Hang zur Authentizität der leichte Biedersinn der Erzählung rührt. Sooo spannend ist das „echte Leben“ jedenfalls nicht — in Zürich. In Berlin übrigens auch nicht. Hatte sich Widmer in der letzten Erzählung noch mit Andeutungen begnügt, verrät er uns diesmal sogar, wo er wohnt, nämlich „in der Nähe des Hegibachplatzes“. Er wohnt übrigens wirklich dort, gleich gegenüber der Probebühne des Zürcher Schauspielhauses; ich selbst habe ihn an einem Wintermorgen vor zwei Jahren mit seinem Schnauzbart aus dem Fenster herausgrinsen sehen, ein schöner Anblick. Die kulturelle „Sehenswürdigkeit“ des Städtchens klappert die Erzählung unbarmherzig ab, vom Café Odeon – Sie wissen schon, wo sich seinerzeit Mr. Joyce betrank – bis zur Spiegelgasse, wo bekanntlich Lenin und Büchner wohnten, wie Widmer nicht versäumt, uns zu erinnern; weshalb nur hat er das Cabaret Voltaire vergessen – wollte er es sich für die nächste Zürcher Erzählung aufsparen?

Widmers Phantasie sei Dank ist die Erzählung weit weniger vorhersehbar als die Zürcher Stadtrundfahrt. Das Muster ist bekannt: Zwei Herren, ein gewisser Helmut und der Erzähler, kreisen als Trabanten um eine Dame, Mary Hope („Sie war hübsch, außerordentlich hübsch“) – bis Mary in den Armen eines original Aboriginal irgendwo im australischen Busch landet und dort bleibt. Damit macht sie nicht nur den Umlaufbahnen der Herren ein Ende, sondern beweist uns, daß auch Urs Widmer das eine oder andere Buch von Bruce Chatwin gelesen hat, so daß er jetzt munter von „Songlines“ oder „Traumpfaden“ orakeln kann. Schöner als die Geschichte ist Widmers Erzählweise: Er hangelt sich an einem Brief, den der verlassene Helmut an die verschwundene Schönheit richtet, durch seine Erinnerungen. Das Schöne an diesem Brief ist die Sprache: bestes Pidgin- Englisch. Mary Hope ist Engländerin, die kaum Deutsch kann, Helmut ist Schweizer, der sich mit bescheidensten Englischkenntnissen begnügen muß: „Mary, I write you without a dictionary. Forgive me my mistakes. It is impossible to love the way I do and to look up words.“ Eleganter, lakonischer wurde in der jüngeren Literatur die Sprachlosigkeit der Liebe wohl nie in Sprache verwandelt. Mit einem anderen Taschenspielertrick führt Widmer die gute alte polyperspektivische Erzählweise ein: Was bei Faulkner oder Uwe Johnson zum Beispiel noch eine schwer avantgardistische Anstrengung war (erinnern Sie sich an die Rekonstruktionsqualen bei der Lektüre von „Mutmaßungen“?), wird hier zu charmantem Geplauder: Nachdem wir Helmuts stammelnden Liebesbrief gelesen haben, schaltet sich immer wieder der Erzähler (und zweiter Mary-Verehrer) ein und verrät uns, wie das alles in Wirklichkeit war, nämlich (natürlich!) ganz anders. So spiegeln sich Eifersucht und Liebeswahn der beiden unglücklich liebenden Herren ineinander – und natürlich denkt jeder, seine Mary habe ausgerechnet mit dem Nebenbuhler den siebten erotischen Himmel erreicht. Nach und nach erfahren wir, daß hinter Helmuts Leiden seine mächtigen Verklemmtheiten stecken – regelmäßig beglückt der Erzähler die Damen, bei denen sein Freund Helmut versagt hat. Eine Männerfreundschaft, sozusagen. Doch trotz der Ironien, trotz des leicht dahinplätschernden Tonfalls – Widmers Erzählung ist in einer Weise bieder, die alles, wirklich ALLES irgendwie nett und etwas komisch findet. Kindheitserinnerungen und der Horror einer verbitterten Ehe („Sie waren einfach zu Hause und schrien sich an, so lange, bis der erste tot war“), spätpubertäre Nöte („I masturbated for the first time when some of my schoolmates already had wives and babies“) und die grauenvollsten Liebeskatastrophen – alles wird gnadenlos freundlich beschmunzelt. Urs Widmers neue Erzählung ist eine Weltverkleinerungs- und Leidverharmlosungsmaschine: Is' ja alles so schön bunt hier. Peter Laudenbach

Urs Widmer: „Liebesbrief für Mary“, Diogenes Verlag, Zürich 1993, 99 Seiten, 26,80 DM