Schriften zu Zeitschriften
: Allgemeines Befremden

■ Ein Sonderheft des „Berliner Journals für Soziologie“ zu Ehren von Georg Simmel, der die Soziologie nach Berlin brachte

Das neue Heft des „Berliner Journals für Soziologie“ widmet sich dem Werk Georg Simmels, der im Wintersemester 1893 erstmals an der Berliner Universität „Übungen auf dem Gebiete der Soziologie“ anbot.

Simmel gelang es, seiner neuen Wissenschaft ein großes Publikum zu gewinnen, das zum Verdruß seiner Fachkollegen in den etablierten Geisteswissenschaften weit über die studentische Öffentlichkeit ins Bildungsbürgertum hineinlappte. Der Neid auf Simmel wurde zum Katalysator des antisemitischen Ressentiments, dem sich dieser brillanteste Kopf des deutschen Fin de siècle zeitlebens ausgesetzt sah. Herausgeber Hans Peter Müller zitiert aus einem Gutachten, mit dem Simmels Berufung nach Heidelberg – für die immerhin Max Weber eintrat – sabotiert wurde: „Dazu würzt er seine Worte mit Pointen. Seine Hörerschaft setzt sich dementsprechend zusammen. Die Damen bilden ein selbst für Berlin starkes Kontingent. Im übrigen ist die orientalische Welt, die seßhaft gewordene und die allsemesterlich aus den östlichen Ländern zuströmende, überaus stark vertreten. Seine ganze Art ist ihrer Richtung, ihrem Geschmack entsprechend.“ Daß ihm die Damen erhalten blieben, mag Simmel ein wenig darüber getröstet haben, daß die akademische Anerkennung ihm so lange – bis zu seinem 56. Lebensjahr – versagt blieb. Erst 1914 offerierte man ihm eine ordentliche Professur in Straßburg; welche Ironie: der undeutscheste, metropolitanste, kosmopolitischste Denker seiner Zeit war nun ausgerechnet auf dem äußersten Vorposten gelandet, auf dem der deutsche Geist sich seinem welschen Feind und Widersacher entgegenstemmte!

In den letzten Jahren wurde eine beträchtliche Liste von Gründen zusammengetragen, warum man Simmel wieder lesen sollte. Heute ragt einer heraus: Simmel hat als erster erkannt, daß die Soziologie einen Begriff des Fremden braucht, wenn ihr Minimalprogramm gelingen soll – die Selbstbeschreibung der modernen Gesellschaft mit ihren Begriffsvorschlägen komplexer zu gestalten. Völlig zu Recht findet sich daher in dem Simmel-Sonderheft neben biographischen und systematischen Beiträgen ein Essay des Systemtheoretikers Alois Hahn, der unter dem abschreckend staatsmännischen Titel „Identität und Nation in Europa“ die Wiedereinführung der Figur des Fremden in die zeitgenössische Soziologie betreibt. Hahn zeigt, daß es einen fundamentalen Unterschied zwischen der Position des Fremden in vormodernen und in modernen Gesellschaften gibt. Wo Menschen durch Zugehörigkeit zu Personenverbänden vergesellschaftet sind, da ist der Fremde als derjenige, der von außen kommt, die einzige objektive und unparteiische Instanz: daher wurden, wie Simmel schon in seiner „Philosophie des Geldes“ (1900) erwähnte, in vielen Städten des mittelalterlichen Italien Ausländer zu Richtern oder Stadtherren gewählt, um unversöhnliche Feindschaften zwischen den Familien politisch unschädlich zu machen. Allerdings: „Weil sie nicht als Personen bzw. Familien Mitglieder des Sozialverbands sind, partizipieren die Fremden nicht an den allgemeinen Rechten für Mitglieder.“ Der Schutz, dem sie unterliegen, kann ihnen beliebig aufgekündigt werden, wenn ihre Funktion überflüssig wird.

Die Moderne bringt hingegen die „Generalisierung der Fremdheit“ (A. Hahn) – eine Errungenschaft, die Kulturkritiker aller Lager (Entfremdung!) weidlich zum Thema gemacht haben. Systemtheoretiker sind ja bekanntlich ziemlich abstinent, was die Verlockung zur Moralisierung solcher Sachverhalte angeht. So auch Alois Hahn: „Der Fremde in vormodernen Gesellschaften ist als Fremder das, was heute alle sind, nämlich zunächst einmal bloßer Funktionsträger. (...) In gewisser Weise kann man sagen, sie [moderne Gesellschaften] basierten darauf, daß Fremdheit kein besonderer sozialer Status mehr ist, sondern allgemeines Los. Die Voraussetzung dafür, daß dies funktionieren kann, ist allerdings, daß eine allgemeine Anerkennung aller Bürger als Bürger gegeben ist, daß also auch Schutz und Rechtszugang universal zugänglich sind. (...) Paradox formuliert: Nur dort können alle Fremde sein, wo es keine Fremden mehr gibt.“ Leben wir in einer solchen Gesellschaft? Jörg Lau

Berliner Journal für Soziologie, Heft 2/1993. Akademie Verlag, Leipziger Str. 3-4, 10117 Berlin