■ Zur geplanten Einfrierung der Sozialhilfesätze
: Sozialstaat ade

Ein unrühmliches Schauspiel, das wir seit der Jahreswende vorgeführt bekommen: ein Stück mit dem wohlklingenden und vielversprechenden Titel „Solidarpakt“. Nach der Herstellung der deutschen Einheit sollte der Aufholprozeß in den neuen Ländern auf eine dauerhafte Finanzgrundlage gestellt werden, die Schulden der ehemaligen DDR sollten bewältigt und die öffentlichen Haushalte konsolidiert werden. Umverteilung und Sparen waren angesagt. Geboten wurde jedoch erst einmal eine Mißbrauchsdebatte, die Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger diffamierte und dem Verdacht aussetzte, sich ihre Leistungen zu erschleichen. Ein Keil wurde getrieben zwischen die vermeintlich „faulen Sozial-Betrüger“ und die „ehrbaren, fleißigen Steuerzahler“. So schuf man das Klima für eine Politik, die, wenn sie vom Teilen spricht, in erster Linie die Armen meint, die mit den Armen teilen sollen. Eine Politik, die, wenn sie von Umverteilung spricht, sich nicht scheut, mit dem Einfrieren der Regelsätze diejenigen nun vollends auszugrenzen, die ohnehin am Rande unserer Gesellschaft leben. Ganz neu ist dieses alles nicht. Es handelt sich lediglich um den vorläufigen Höhepunkt eines sukzessiven Rückzugs des Staates aus seiner sozialpolitischen Verantwortung.

Und der Rückzug hat durchaus Logik und System. Wir wissen: Je besser das soziale Leistungsnetz ausgebaut ist, um so anfälliger wird der Staat für wirtschaftliche Einbrüche. Diese bescheren ihm auf der einen Seite Steuerausfälle, auf der anderen Seite lassen sie die Inanspruchnahme der sozialen Leistungen steigen. Über seine sozialen Leistungsgarantien schlagen wirtschaftlich schwierige Situationen direkt in staatliche (Haushalts-)Probleme um. Der Staat ist gezwungen, Maßnahmen zu ergreifen. Dabei muß für die von sozialen Nöten Betroffenen keinesfalls etwas abfallen. Der Staat hat mit der Armut andere Probleme als die Armen. Für ihn stellt sich in erster Linie die Frage, wie sich die rechtlich festgeschriebenen Leistungsansprüche der Betroffenen haushaltspolitisch bewältigen lassen, ohne politisch oder ökonomisch nur schwer zu vertretende Folgeprobleme hervorzurufen – sei es in Form von wachsender Staatsverschuldung, Steuererhöhungen oder der Anhebung von Sozialversicherungsbeiträgen.

Dabei ist es für eine jede Regierung verlockend, in wirtschaftlich schwierigen Zeiten den vermeintlich gordischen Knoten aus steigenden sozialen Verpflichtungen und unzureichendem Steueraufkommen ganz einfach zu zerschlagen: die Ansprüche an den Staat werden wegdefiniert; Leistungsgarantien werden zurückgenommen. Damit sind die sozialen Probleme zwar in keiner Weise gelöst – ganz im Gegenteil –, wohl aber die politischen. Bereits das erste Haushaltsstrukturgesetz unter SPD- FDP-Regierungsverantwortung Mitte der siebziger Jahre bescherte vor dem Hintergrund einer tiefen Wirtschaftskrise nicht nur die ersten einschneidenden Einschränkungen im sozialen Netz, sondern markierte darüber hinaus den Startpunkt für den langsamen und strategischen Rückzug des Staates auf seine ureigenen Probleme: Wählermehrheiten, Haushalt, Steueraufkommen, eine halbwegs florierende Wirtschaft. Dieser Rückzug macht sich in vielen einzelnen Stationen fest: vom 20. und 21. Rentenanpassungsgesetz, den verschiedenen Novellen des Arbeitsförderungsgesetzes, der sogenannten „Operation '82“ – dem massivsten sozialstaatlichen Abbau unter sozialliberaler Regierungsverantwortung – über die Haushaltsbegleitgesetze 1983 und 1984 mit ihren Einschnitten beim Arbeitslosengeld, bei den Renten, bei Kuren und Krankenhausaufenthalten, beim Bafög, beim Wohngeld und auch damals schon in der Sozialhilfe, bis hin zur Blümschen Gesundheitsreform 1988, die chronisch kranke und behinderte Menschen belastete.

Der sozialstaatliche Rückzug ist alles andere als eine parteipolitische Veranstaltung. Er ist vielmehr Ausdruck der Durchsetzung eines neuen politischen Paradigmas nach einer kurzen Zeit des aktiven Sozialstaatsoptimismus: ein Paradigma des Verzichtes auf strukturverändernde Politik. Statt problemlösenden Umbaus, dort, wo die sozialen Sicherungssysteme der Altersversorgung, der Arbeitslosenversicherung und der Sozialhilfe versagen, Verabschiedung aus der sozialstaatlichen Verantwortung, Abschütteln von Leistungsansprüchen und Erklärung der Nicht-Zuständigkeit. Dies erfolgt systematisch: Betroffen sind diejenigen mit dem geringsten Konfliktpotential: Rentner, Behinderte, Arbeitslose, Sozialhilfeempfänger. Der Vorwurf des sozialen Kahlschlags, immer wieder erhoben, trifft nicht. Für den sogenannten Kernleistungsbereich wurde und wird weiterhin eine attraktive Sozialpolitik praktiziert, betrachten wir die Verbesserungen im Kindergeld oder die Einführung von Erziehungsgeld und Kinderfreibeträgen 1982 bis 1985. Und auch in der aktuellen Diskussion tut man sich sichtlich leichter, Sozialhilfeempfänger unter die Armutsschwelle zu drücken als Gutverdienenden ihr Kindergeld zu nehmen.

Angesichts beschränkter Kapazitäten richtet der Staat sein Problemlösungsverhalten auf ein kleineres Spektrum aus: eine erfolgreiche Politik für die Erfolgreichen, für die sich damit im wesentlichen nichts ändern muß und alles beim alten bleibt; genauso wie für den Staat, der sich weiterhin durchwursteln kann und sich mit den Strukturproblemen seines sozialen Sicherungssystems nicht grundsätzlich auseinanderzusetzen braucht.

Daß eine solche Politik den sozialpolitischen Herausforderungen der Vereinigung nicht gewachsen sein konnte, lag nach über zehn Jahren, in denen dieses Paradigma der sozialen Problemimmunisierung praktiziert wurde, auf der Hand. Es entspricht alldem, daß vielmehr ein Versicherungssystem exportiert wurde, das bereits im Westen seine Funktionsgrenzen überschritten hat, da es auf einen funktionierenden Arbeitsmarkt angewiesen ist und aus eben diesem Grunde im Osten gar nicht greifen konnte und kann. Beängstigend dabei ist, daß selbst zweieinhalb Jahre nach der Vereinigung und angesichts unübersehbarer sozialer Probleme und Not die politische Kraft zur Gestaltung nicht gegeben zu sein scheint. Ohne jegliche soziale Logik wird statt dessen regiert wie gewohnt: es wird gestrichen und weiter ausgegrenzt. Das Einfrieren der Regelsätze kommt dabei einem sozialstaatlichen Dammbruch gleich.

Deutschland hat sich von seiner herausragendsten sozialstaatlichen Errungenschaft faktisch verabschiedet: die Verpflichtung des Paragraphen 1 des Bundessozialhilfegesetzes, einem jeden Menschen in unserer Gesellschaft in jedem Fall den Mindestbedarf sicherzustellen und eine Lebensführung zu ermöglichen, die der Würde des Menschen entspricht. Wir haben eine neue Gesellschaft. Ulrich Schneider

Mitarbeiter des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes-Gesamtverband in Frankfurt/M.; Gründungssprecher der „Nationalen Armutskonferenz“; gerade erschien vom Autor bei Knaur-TB: „Solidarpakt gegen die Schwachen – Der Rückzug des Staates aus der Sozialpolitik“