Links blinken, rechts abbiegen?

Über die Abgrenzungsschwierigkeiten der französischen Intellektuellen  ■ Von Walter van Rossum

Vor einiger Zeit erhielt ich seltsame Post: Zwei Nummern der Zeitschrift Etappe. Der Begleitbrief der Herausgeber, Heinz- Theo Homann und Günter Maschke, bat um den Abdruck einer Hörfunk-Sendung von mir: Ein Essay über den Frühkommunisten, Spazierspäher, Illuminaten und Leidenschaftsdiener Rétif de la Bretonne – ein französischer Schriftsteller des 18. Jahrhunderts von schwer faßlichem Format. Geschmeichelt, einen Hörer gehabt zu haben, geschmeichelt, um Druckerlaubnis gebeten zu werden, lehnte ich dankend ab.

Etappe beobachtet die Gegenwart konsequent durch die Brille von Ernst Jünger und Carl Schmitt. Mehr noch: Neuere theoretische Ansätze von Luhmann über Kittler bis Derrida, Lyotard und Virilio werden hier so gelesen, daß, wenn diese Autoren wüßten, was ihnen zur ihrem Glück fehlte, sie bei Schmitt-Jüngern Erfüllung fänden. Ich habe das zunächst nur für eine weitere Wirrung im laufenden Labyrinth gehalten. Merkwürdigerweise wurde ich in unregelmäßigen Abständen weiterhin mit Etappe- Heften beliefert. Die letzte mir zugegangene Nummer vom März 1993 enthielt ein interessantes Editorial „Lob der Grenzen“ und bot alles und noch mehr, als der Titel versprach.

Genauer allerdings habe ich mir das Heft erst angeschaut, als im Juli in Le Monde ein „Aufruf zur Wachsamkeit“ erschien – unterschrieben von so unterschiedlichen Intellektuellen wie Lothar Baier, Yves Bonnefoy, Pierre Bourdieu, Jacques Derrida, Georges Duby, Umberto Eco, Rossana Rossanda und Paul Virilio. Es geht um eine Warnung vor den Tarnmanövern „rechtsextremer antidemokratischer Strömungen im geistigen Leben Frankreichs und Europas“. Die rechten Ideologen verfolgen neuerdings eine Strategie der Normalisierung und des Dialogs. Sie drängen in liberale Medien, spielen Läuterung und laden renommierte demokratische Intellektuelle zur Mitarbeit an einschlägigen Publikationen ein. „Aus Mangel an Informationen oder Wachsamkeit, aus Respekt vor der Freiheit des Wortes, aus Sorge um uneingeschränkte Toleranz leisten viele von ihnen, darunter die Verdienstvollsten, dieser Legitimierungsstrategie Vorschub“, heißt es im Aufruf des „Komitees der Wachsamkeit“. „Darunter die Verdienstvollsten“ bezieht sich unteranderem wahrscheinlich auf den angesehenen Verlag Gallimard, der ein Buch des Soziologen Paul Yonnet veröffentlichte. Dessen „Reise ins Herz der französischen Malaise“ mündet in die Erkenntnis, daß der Antirassismus die „tiefe französische Einheitlichkeit“ störe. Der überaus renommierte Historiker und Herausgeber der Zeitschrift Le Débat, Pierre Nora, stellte in seiner Zeitschrift eine Dokumentation über Yonnets Thesen und die Reaktionen darauf zusammen. Dabei nahm er für sich und Yonnet den „Mut eines Heckenschützen“ in Anspruch. Zu Recht glauben die Autoren des Aufrufs, daß dergleichen wohl nicht nur in Frankreich geschieht. Mir ist jedenfalls der vermeintliche Irrtum von Etappe, mich um einen literarischen Artikel zu bitten, als Strategie aufgegangen. In diesem Sinne begrüße ich den Aufruf und halte seine Verbreitung für wichtig.

Es bleiben Bedenken diffizilerer Art. Einige Unterzeichner haben für meinen Geschmack kräftig zur rasanten Entpolitisierung der Intelligenz in Frankreich beigetragen. Manch einer der heute Besorgten pflegt seit Jahrzehnten heikle Dialoge. Nehmen wir Jacques Derrida. Den „Logozentrismus“, dem er den Kampf ansagt, hat lange vor ihm der einschlägig bekannte Ludwig Klages kritisiert und im friedlichen Wettstreit mit den Nazis zu dezentrieren versucht. Derridas Säulenheilige heißen Martin Heidegger und Friedrich Nietzsche. Von ersterem wissen wir, was wir bei zweiterem nur bange ahnen können, daß es vermutlich nicht einmal zu einer professoralen inneren Emigration angesichts der Bewegung des „Anstreichers“ gereicht hätte. Und wenn schon: Derrida hätte ihn (wie Heidegger und Paul de Man) zu retten verstanden. Früh hat Derrida Maurice Blanchot gehuldigt. Der hatte mit Faszination für das stramm Nationale nicht hinter dem Berg gehalten. Darüber darf man in Frankreich bis heute nur hinter vorgehaltener Hand tuscheln. Deshalb hat auch Derrida vorgezogen, daraus gar nicht erst ein Problem zu machen.

Ich möchte keinesfalls suggerieren, Derrida sei ein verkappter Faschist. Er selbst würde für sich die surrealistisch subversive Tradition beanspruchen. Seinen berühmten Aufsatz über „Fines hominis“ aus dem Jahre 1968 setzt er in unmittelbarem Bezug zu den Studentenunruhen. Das war kühn und propagandistisch sehr effektiv, das war auch sehr unverbindlich und vor allem durch nichts begründet. Vielleicht war es auch ein Versuch, jene Traditionen umzudesignen, mit denen er und andere zimlich sorglos dialogisierten. Noch in seiner unsäglichen Heidegger-Apologie „Vom Geiste“ hat Derrida behauptet, daß Heideggers politischer Sündenfall nur als Rückfall in die alte humanistische Metaphysik und damit sozusagen ins Vor- Heideggersche verstanden werden könnte. Dummerweise waren aber gerade viele altbackene humanistische Metaphysiker vor solchen Sündenfällen einigermaßen gefeit.

Kein Denken ist gegen Mißbrauch gefeit. Und man sollte gar nicht erst anfangen damit, es dagegen zu sichern. Aber ich frage mich doch, warum rechte Denker in Frankreich und Deutschland das Gespräch mit einer bestimmten theoretischen Avantgarde suchen. Denn es geht um mehr als das Namens-Prestige linksliberaler Denker. Was könnte rechte Theoretiker an Derrida oder Lyotard interessieren? Sind es die humorlos finsteren Messen des Dekonstruktivismus, das Abendmahl, in dem immer und immer der Tod der Metaphysik hochmetaphysisch zelebriert wird? Ist es das allerorten beschworene Unsagbare, der Schauer des Schweigens, die Verheißung von Alterität, kurz, das köstlich modernisierte Aroma der philosophischen Ahnen? Welche Rolle spielt der mal flotte, mal verquaste theoretische Anti-Humanismus? In welchem Maße korrespondiert die sublime Dekonstruktion des Politischen den niederen Instinkten der „apolitischen Bewegung“? Und stellt der ewige Aufschub der „différance“ nicht einen gloriosen Sieg über Aufklärung und Rationalität dar? Überall spüren wir – nirgends so genannte und sogar gut getarnte – „Existenzialisierungen“, wie Carl Schmitt das existentielle Ohrensausen im Struggle for life genannt hat. Wo verläuft die Vermischungslinie?

Wir wissen es nicht. In dem Spiel tummeln sich viele Unbekannte. Man kann nur beobachten, daß rechte Theoretiker Appetit auf Thesen und Stile entwickeln, die ihre Urheber gerne eher links ansiedeln möchten. Politische Kenntlichkeit von Theorien entnehmen wir meist den politischen Ansichten und biographischen Episoden ihrer Autoren. Was wäre aber, wenn Heidegger jene paar hundert Zeilen faschistischen Schund nicht geschrieben und nicht jene herrlichen Beispiele von Charakterlosigkeit angesichts der nationalsozialistischen Herausforderung geboten hätte?

Daß die linksliberalen Theoretiker besorgt die Umarmungsversuche der Rechten ablehnen, kann man verstehen. Ich fürchte nur, daß sie nicht mit nämlicher Deutlichkeit sehen, inwieweit sie Affinitäten unterschwellig selbst herstellen: Seit Jahren bemüht sich eine linke Theoriefraktion, in Carl Schmitt den Genossen zu entdecken. Wie kann man zum Beispiel erklären, daß der Held von Falkland, der „blutig ernste“ Kämpfer gegen die Mainzelmännchen, der Jünger-Jünger und fürchterliche Ästhet des Schreckens, der mit seinem Gehechel nach nationaler Größe nirgends hinter dem Berg gehalten hat, wie kann man erklären, daß Karl Heinz Bohrer ausgerechnet in der taz eine Lektion über Ironie erteilen kann? Wo doch kaum einer weniger von Ironie versteht als Bohrer – wie sein Artikel trefflich beweist.

Ich lese gerade von einem Hofgeismarer Kreis“ aus Jusos, die sich um verstärkte „Solidarität mit der deutschen Volksgemeinschaft“ bemühen. François Mitterrand und Helmut Kohl besuchen Ernst Jünger. Und warum nur fällt solch empfindsamen Geistern wie Botho Strauß und Martin Walser nichts klügeres ein als der Rückfall in archaische Mythen und die schmuddeligen Nester des Nationalen? Die Linke hat entweder gar kein oder aber kein eigenes Verhältnis zum „Existentiellen“, zu einer metaphysisch verstandenen Sorge ums Dasein. Oder sagen wir es in weniger aufreizenden Worten: Die instrumentelle Vernunft linker Politik hat nun einmal nur eine bestimmte Reichweite. Den obskuren Rest tabuisiert eine mächtige und mächtig verinnerlichte linke Tradition als „kleinbürgerlichen Individualismus“. Dummerweise gibt es aber diesen Rest. Und von „No guru, no method, no teacher“-Einstellungen sehe ich gerade Linke meilenweit entfernt. Das führt immer wieder dazu, daß sich Linke ihr Seelenfutter ganz offen an rechten Krippen holen. Und sich dann – wie Martin Walser – hochempört geben, wenn ihnen das als „Verrat“ angekreidet wird. Oder es gibt die poststrukturalistischen Versuche, sowohl die instrumentelle politische Vernunft als auch den metaphysischen „Rest“ als Sprachspiel zu dekonstruieren. Den diversen Betriebsanleitungen dieses Denkens sollen wir entnehmen, daß sich diese Versuche, trotz einiger unerquicklicher Ahnen, auf so etwas wie „Emanzipation“ – so hätte man in vordekonstruktiven Zeiten gesagt – beziehen soll. Anscheinend ist die Dekonstruktion des Politischen so gut gelungen, daß das „Komitee der Wachsamkeit“ jetzt verdammt hilflos die Rekonstruktion der alten politischen Demarkationslinien fordert. Kurz, die Wachsamen sollten nicht zuletzt auch ein Auge auf sich haben.