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Der Atem als Spiegel der Psyche

Durch Atemtherapie zur Leichtigkeit des Seins / Schon 300 Praxen in Berlin  ■ Von Anja Dilk

Genüßlich schieben sich Joachims graubestrumpfte Füße über den hellen Veloursteppich, recken und strecken sich der Wand entgegen. Angelika neben ihm gleitet vom Ikea-Hocker und räkelt mit wohligem Gähnen ihre Arme. Hinten in der Ecke krümmt Ingrid ihren Rücken zu einem runden Katzenbuckel. Ordentlich durchgedehnt und entspannt, kann die Gruppe jetzt die erste Übung beginnen. Die sechs Teilnehmer beginnen mit geschlossenen Augen, aus den Fußgelenken federnd, auf der Stelle zu hüpfen. Bei jedem Hüpfer stoßen sie mit jedem Ausatmen ein lauttönendes „Ha, Ho, Hi, Hu“ aus. „Merkt ihr, wie die Körperbewegung die Atembewegung unterstützt, wie das Ausatmen stärker wird?“ fragt Christian. Ich hüpfe, rufe und mühe mich, aber so recht merke ich es nicht. Vielleicht doch etwas viel verlangt beim ersten Mal, sage ich mir und tröste mich mit einem Blinzeln auf die angespannt-zufriedenen Gesichter ringsherum.

Jeden Dienstag abend treffen sich die sechs in dem sanft beleuchteten Kellerraum in der Kreuzberger Solmsstraße mit ihrem Leiter Christian zur „Atemarbeit“. Seit einem Jahr betreiben Christian, der früher Lehrer war, und Cordula, die ehemalige Rechtsanwaltsgehilfin, zusammen mit einer Freundin eine Praxis für „Psycho- physische Atemarbeit“. Alle drei sind ausgebildete Atemtherapeuten. Sie haben an der 1964 gegründeten Ilse-Middendorf-Schule drei Jahre lang die Techniken der Atemarbeit sowie Psychologie und medizinische Grundbegriffe gelernt. „Der Atem als Spiegel der Psyche ist Ausgangspunkt unserer Arbeit“, erläutert Cordula, „die Art und Weise, wie jemand atmet, ob langsam oder schnell, hektisch oder ruhig, ist Ausdruck seines gegenwärtigen seelischen und körperlichen Zustandes.“ Bei der Atemarbeit soll der einzelne über die Körperempfindung seinen eigenen, natürlichen Atem in seinem Körper erleben. Den Atem zulassen, heißt die Zauberformel. Und das ist gar nicht so einfach. Denn Atmen ist schließlich nicht nur das schnöde Ein- und Aussaugen von Luft, sondern vielmehr eine komplexe Bewegung, die beim Einatmen alle Körperwände weit werden läßt und beim Ausatmen wie eine Druckwelle zurückschwingt. In der Gruppenarbeit werden deshalb Übungen gemacht, durch die man die eigenen Körperräume und die Atemkraft kennenlernen soll, vom Flankenkreisen über das Dehnen bis zum befreienden Rufen verschiedener Vokale und Konsonanten.

Die Einzelstunden sind individueller abgestimmt. Cordula und Christian legen selbst Hand an, drücken und dehnen an Beinen und Füßen, streichen über Rücken und Bauch, um ihre Klienten die Atembewegung schrittweise erfahren zu lassen. Nicht bei jedem klappt das auf Anhieb – „aber selbst bei schwierigen Fällen tut sich nach einiger Zeit etwas, weil man merkt, daß sich der Therapeut auf den ganzen Menschen einläßt“. Und wirklich, wie Cordula sanft, aber intensiv meine Wirbelsäule hinunterfährt, scheint sie den Atem geradezu aus meinem Körper zu ziehen. „Glückt die Bewegung aus dem Atem, entsteht ein Gefühl des Leichtseins“, ergänzt Christian. Davon bin ich allerdings noch weit entfernt. Anne aus der Gruppe scheint bedeutend weiter zu sein. Als wir mit geschlossenen Augen Mmms und Ohs vor uns hinbrummen, bricht es aus ihr heraus: „Das war ganz irre. Gerade hatte ich ganz intensiv das Gefühl, mich selbst zu lieben.“

Atemtherapie ist keineswegs eine Erfindung der Neuzeit. Schon im alten Ägypten war sie bekannt, in der griechischen Antike gab es sogenannte „Pneuma-Schulen“, in denen eine medizinisch-philosophische Atemlehre verbreitet wurde, die den Atem als Bindeglied zwischen Körper und Seele verstand. Im Europa der Neuzeit erlebte sie erst um die Jahrhundertwende eine Renaissance. Seitdem hat sie sich in Form von verschiedenen Schulen allmählich etabliert. Und die Branche expandiert. In einer Zeit, in der sich die Schulmedizin angesichts der wachsenden Zahl psychosomatischer Krankheiten überfordert sieht, bekommen die alternativen Heilmethoden mehr Zulauf. Dabei versteht sich die medizinische Atemtechnik durchaus als Ergänzung zur klassischen Schulmedizin. Vor allem im Bereich der Prävention kann die Atemschulung sinnvoll sein, indem sie Verspannungen löst, Haltungen verbessert, Atemwegserkrankungen lindert und so tiefgreifenden Schäden vorbeugt.

Zirka 3.000 atemtherapeutische Praxen gibt es in den alten Bundesländern, ungefähr 300 sind es allein in Berlin. Die Konkurrenz ist groß, zumal „Atemtherapeut“ keine geschützte Berufsbezeichnung ist und es keine fest geregelte Ausbildung gibt. Atemtherapeut oder -pädagoge kann sich folglich jeder nennen. Deshalb bemühen sich die im „Verband der Atempädagogen und Atemtherapeuten“ Organisierten zur Zeit beim Gesundheitsministerium um staatliche Anerkennung und die damit verbundene Kassenzulassung. Immerhin: Manche Kassen bezahlen schon jetzt atemtherapeutische Behandlungen ihrer Mitglieder oder bieten sogar selbst Kurse an. Schließlich ist die Atemarbeit auch eine Kostenfrage: 70 kostet eine Einzelstunde, 75 Mark im Monat der wöchentliche Gruppenunterricht.

Zu den Klienten der Atemtherapeuten gehören Leute, die einfach etwas für ihr Wohlbefinden tun wollen, aber auch Menschen mit psychosomatischen Problemen wie zum Beispiel Anne, die aufgrund von Angstzuständen starke Atembeschwerden hatte. Eine Gesprächstherapie und Yoga haben ihr nicht geholfen. Seitdem sie regelmäßig bei Christian und Cordula Atemarbeit macht, sind die Beschwerden verschwunden.

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