Ohne Angst anders sein?

Jeanette Wintersons Debütroman „Orangen sind nicht die einzige Frucht“ – eine skurrile Geschichte über das Entkommen und seine Kosten  ■ Von Jörg Lau

„Mutter, die Welt ist sehr still“, steht auf dem Zettel, den die kleine Jeanette ihrer Mama eines Tages überreicht. Die nickt daraufhin nur verständnisvoll (und auch ein wenig stolz) und versenkt sich wieder in ihr Buch. Seit längerer Zeit haben die anderen Mitglieder der Pfingstler-Sekte, der die beiden angehören, bemerkt, daß dieses Kind sich in einem besonderen Zustand befindet. Jeanette hat nämlich aufgehört, den Erwachsenen wie andere brave Kinder Antworten zu geben. Aber soll man sich darüber wundern? Sie ist schließlich sieben, das ist eine heilige Zahl, und in den Siebenern geschehen bekanntlich merkwürdige Dinge. Mutter, von der begriffsstutzigen Tante May nach dem Zustand ihrer Tochter befragt, weiß auch schon Bescheid: „Es ist der Herr.“ (Von dieser Mutter heißt es einmal kurz und treffend: „Sie war durch und durch Altes Testament.“) Nur per Zufall kommt heraus, daß der Grund für Jeanettes Entrückung nicht der Geist des Herrn ist, sondern eine vorübergehende Taubheit, verursacht durch eine Mandelentzündung.

Jeanette (!) Wintersons Debütroman, der jetzt unter dem Titel „Orangen sind nicht die einzige Frucht“ auf deutsch vorliegt, ist voller solcher bizarrer Szenen der Profanation. Die Ich-Erzählerin, die anhand des Buches Deuteronomium lesen lernt und sich daher so gut mit Pelikanen, Faultieren, Klippdachsen und Fledermäusen auskennt (unrein!) wie andere Kinder mit Häschen, Entchen und Pferdchen, wird, soviel sei verraten, am Ende der frommen Wahnwelt der Pfingstler entkommen. Sie wird sogar Bekanntschaft mit gewissen Regungen machen, die Pastor Spratt, geistiges Oberhaupt der Gemeinde, mit erhobener Stimme „UNNATÜRLICHE LEIDENSCHAFTEN“ nennt, und sie wird herausfinden, daß sie alles andere als „GRÄSSLICH“ sind. „Melanie“ – das Mädchen aus dem Fischgeschäft, das diese Leidenschaften zum ersten Mal in ihr entfacht – wird von Jeanette, als man ihnen beiden auf die Schliche gekommen ist, verteidigt als „ein Geschenk des Herrn, und es wäre undankbar, sie nicht zu würdigen“.

Vorher ist, wie es sich für einen Bildungsroman gehört, freilich die Schule zu durchlaufen; eine „BRUTSTÄTTE“, meint Jeanettes Mutter, die sie daher auch konsequent von diesem Ort fernhält und erst nach Androhung staatlicher Zwangsmaßnahmen klein beigibt. In der Schule wird Jeanette, gerade durch die pädagogischen Anpassungsversuche, auf ihr Außenseitertum zurückgeworfen. Merkwürdig: keine Schulreform scheint den Reiz des Klassenzimmers als Unglücksszenerie mindern zu können. Winterson sind hier wunderbar skurrile Szenen von Isolation und Unverständnis gelungen, die deutsche Leser an Anton Reiser und den Grünen Heinrich erinnern werden; so etwa jene, in der Jeanette arglos den Aufsatz über ihr „schönstes Ferienerlebnis“ vorliest – eine Wunderheilung, die ihre Mutter an der sterbenskranken Tante Betty vollbracht hatte, worauf die ganze Gemeinde an den Strand gegangen war, „um Zeugnis abzulegen“ ...

Als Jeanette Wintersons Erstling 1985 von einem kleinen Verlag als Taschenbuch herausgebracht wurde, hätte wohl kaum jemand darauf gewettet, daß ein Buch, das lesbische Erweckungserlebnisse in Pfingstlerkreisen abhandelt, ein solcher Erfolg werden würde. Aber Winterson erhielt den Whitbread-Preis für das beste Debüt des Jahres, und prompt stand auch die BBC auf der Matte, um den Stoff für eine Fernsehserie in Form zu bringen, die dem Vernehmen nach ebenfalls erfolgreich war. Mag sein, daß das schnelle Interesse von dem politisch korrekten Minderheitenthema in pittoreskem Setting angelockt wurde, wie es auch der deutsche Klappentext verspricht. Dem Buch wäre es zu gönnen, daß viele LeserInnen mit falschen Erwartungen hineinstolpern, denn sie werden aufs angenehmste enttäuscht werden. Der Roman ist fern von dem erwartbaren Individuations-Kitsch, wie er in den gängigen trivialen Schwundstufen des Bildungsromans ausgebreitet wird – keine plane Siegesgeschichte, kein erbauliches Exempel mit grundsympathischer Heldin, die beharrlich dem Starrsinn der Umwelt trotzt, um schließlich glücklich als vollwertiges Mitglied derselben zu enden. Heldengeschichten dieser Machart, vor allem aus ethnischen oder sozialen Minderheitenmilieus, bekommen ja in den übermoralisierten Abteilungen der amerikanischen Literaturwissenschaft inzwischen das Qualitätsetikett „enabling“ (handlungsorientierend).

Wie wenig Jeanette Winterson mit solchem neuen Minderheiten- Biedermeier zu schaffen hat, zeigt sich etwa in ihren aphoristischen poetologischen Überlegungen über die Unterschiede von Geschehen, Geschichten und Geschichte. Winterson geht es nicht um die Moral des Erzählten, sondern allein um eine Moral des Erzählens: „Manche Menschen sagen, daß alle möglichen Dinge bewiesen werden können. Ich glaube ihnen nicht. Das einzige, was sicher ist, ist die Tatsache, wie kompliziert alles ist, wie eine Schnur voller Knoten. Das beste, was man tun kann, ist, das Fadenspiel zu bewundern und es vielleicht noch ein bißchen mehr zu verknoten. Geschichte sollte eine Hängematte zum Schaukeln und ein Spiel zum spielen sein, so wie Katzen spielen. Schlag die Krallen rein, beiß darauf herum, ordne alles neu.“

Die Heldin, deren Geschichte nach diesem Motto geknüpft wird, ist denn auch unter „enabling„- Aspekten nicht recht verwertbar; sie wünscht sich – da mag sie 18 oder 20 Jahre alt sein – einen Menschen, „der zerstören und von mir zerstört werden will“. Ein radikal romantisches Liebesprojekt, das mit der Geschichte der Enttäuschung, die der Protagonistin widerfährt, allerdings begreiflich wird. „Zerstört werden wollen“, das steht hier nämlich im Gegensatz zum Liebesverrat, den ihre erste Freundin an ihr begangen hat. Nicht eigentlich dadurch, daß sie sich abgewandt, geheiratet und Kinder bekommen hat, sondern indem sie das Geschehene ungeschehen macht, die Fäden durchschneidet, statt sie zu verknüpfen. Melanie will von den erhitzten Umarmungen und gestohlenen Küssen nichts mehr wissen, sie will sie auslöschen und ungeschehen machen. „Ich hätte sie am liebsten geschüttelt, mir mitten auf der Straße die Kleider vom Leib gerissen und geschrien: ,Erinnerst du dich an diesen Körper?‘ Die Zeit ist eine Meisterin im Töten; die Menschen vergessen, fangen an, sich zu langweilen, werden alt, gehen fort.“ Jeanette Wintersons Roman ist eine sanfte, aber nachdrückliche Revolte gegen solche Trägheit des Herzens.

Jeanette Winterson: „Orangen sind nicht die einzige Frucht“. Aus dem Englischen von Brigitte Walitzek, Fischer Verlag, 256 Seiten, gebunden, 36 DM