Briefe aus dem Kessel von Sarajevo

In seinem Unglück, ein Sarajevoer zu sein und die Stadt nicht verlassen zu können, ist dem Regisseur und Fernsehredkateur Davor Koric ein einziges Glück geblieben: daß Frau und Kinder flüchten konnten und in Sicherheit sind. Dieses Glück kommt auch aus ihm selbst, es ist seine Gabe – die zu den seltensten unter den Sterblichen gehört –, lieben zu können. Mit jedem Brief mehr an seine Familie in Deutschland beginnt man den Menschen Koric mehr zu mögen: seinen Optimismus, seinen Lebenswillen, den unerschütterlichen Glauben an die Liebe, seine Mitmenschlichkeit und Hilfsbereitschaft.

Die Stadt ist für ihn schon zu Beginn des Krieges gestorben. Ihre Seele wurde getötet, und das heißt für ihn – den Kroaten mütterlicher-, Moslem väterlicherseits, mit einer Serbin verheiratet, der sich keiner ethnischen Identität zugehörig fühlt –, heimatlos zu sein. „Heimweh ist Scheiße!“ schreibt er an seine Frau Dragana, die seit über einem Jahr getrennt von ihm und allem, was in Erinnerung noch Heimat ist, lebt. Verblüfft erkennt man, daß die Bewohner des Kessels in Sarajevo immer noch Schwierigkeiten mit der Interpretation des Krieges haben, der gegen sie geführt wird. Koric führt Diskussionen, wie man sie auch hier führen muß, um zu beweisen, daß es sich um eine serbische Aggression handelt. Denn, erstaunlich viele Serben, die noch in Sarajevo leben, halten die Moslems und deren Führer Izetbegović verantwortlich für den Krieg. Als würden die Granaten und Bomben nicht von den serbischen Stellungen auf die Stadt fallen! Natürlich regt ihn das auf: Bekannte und Verwandte, die einen Milošević oder Karadžić für Götter halten – mitten in Sarajevo! Aber wenn es darum geht, in Not zu helfen, scheint es für Koric selbstverständlich, diese „Differenzen“ in Klammern zu setzen. Dies ist vor allem der Fall bei seinen Schwiegereltern, die alt und gebrechlich sind und die es vor dem schlimmen Winter ohne Strom und Heizung zu retten gilt. Der Kroate Koric, der ein Bosnier ist und nur Europäer und Kosmopolit sein will, wird fast zur Geisel seiner serbischen Schwiegereltern, die sich nach Belgrad sehnen. Unermüdlich versucht er, für sie einen Platz in einem der Konvois zu bekommen und träumt gleichzeitig davon, sich selbst davonzumachen, sich wortlos von der sterbenden Stadt zu verabschieden, wie so viele, die ihre hilfsbedürftigen Angehörigen alleine zurückließen.

Das Briefeschrieben an seine Familie wird für Koric zur Therapie inmitten des Wahnsinns. Er klammert sich an die Hoffnung, zu seiner Familie nach Münster kommen zu können, schreibt sich gesund, indem er sich immer wieder die Bedeutung dessen klarmacht, daß sie in Normalität leben. Er und sein Freund, der Serbe Zikic, versuchen, sich das Leben ihrer Nächsten in der Ferne vorzustellen. So helfen sie sich gegenseitig in diesen „letzten Tagen der Menschheit“: „Um uns nicht über die nationalen Zugehörigkeiten zu streiten, haben wir uns darauf geeinigt, daß wir beide jetzt Mudjaheddin sind.“ Dunja Melcic

Davor Koric: „... und Sarajevo muß für alles zahlen“, Briefe aus dem belagerten Sarajevo, übersetzt von Thomas Bremer, Fibre Verlag Osnabrück, 255 Seiten, 29,80 DM