"Wir sind hier, um zu helfen"

■ Die Guardian Angels trainieren vor allem Selbstbeherrschung und Verteidigung / Auf den Patrouillen wird mit denen geredet, mit denen sonst keiner spricht

Im Görlitzer Park stehen sich knapp 30 junge Leute in zwei Reihen gegenüber. Gleichzeitig beginnen sie, aufeinander loszugehen, eine Reihe wird zügig rückwärts gedrängt. Die Schiebenden reden dabei ununterbrochen, nach drei Metern brüllen sie: „Jetzt reicht's!“ Alle kehren auf ihre Ausgangspunkte zurück. „Ich habe kaum etwas gehört“, kritisiert die Trainerin, deren englische Anweisungen von einem Jugendlichen übersetzt werden. „Gebraucht euren Mund, redet!“ Die Vorwärtsdrängenden sollen nicht schubsen. „Das wirkt aggressiv, wir wollen Kämpfe stoppen.“ Die Übung soll dazu dienen, kämpfende Personen nicht nur physisch voneinander zu trennen, sondern auch deren Blickkontakt zu unterbrechen.

Jeden Mittwochabend trainieren die Guardian Angels im Görlitzer Park, Sonntag abends im Banzai-Sportcenter an der Uhlandstraße. Sie lernen Selbstverteidigung und Körperbeherrschung und üben, sich verbal mit Angreifern auseinanderzusetzen – und dabei einen klaren Kopf zu behalten. Sonntags kommen Unterweisungen in Erster Hilfe dazu. „Ich mache vor allem Kopfarbeit, auch wenn das nicht so aussieht“, sagt Trainerin Artemis, mit bürgerlichem Namen Nigelle de Bar. Seinen Straßennamen kann sich jeder Angel aussuchen. Die Selbstverteidigungslehrerin aus London ist internationale Trainingskoordinatorin der Guardian Angels. Vor sechs Monaten kam sie nach Berlin, um hier die etwa 90 Angels und ihre zukünftigen Trainer anzuleiten. Geld bekommt sie dafür nicht, sie lebt von Lebensmittelspenden und wohnt bei den BerlinerInnen.

Die Angels üben, immer in Bewegung zu bleiben, die Hände sind geöffnet in Schulterhöhe zu halten, die Ellenbogen nach innen. „Ihr müßt die Hände dort haben, wo Ihr sie vielleicht braucht, wenn Ihr sie erst aus der Tasche holt, kann es zu spät sein“, sagt Artemis warnend. Bei den „klebrigen Ellenbogen“ versuchen je zwei mit aneinanderreibenden Ellbogen, sich zu schützen beziehungsweise anderen leichte Ohrfeigen zu verpassen. Ziel ist dabei nicht, so oft wie möglich zu treffen, sondern dem Partner zu vermitteln, wie man sich schützt. In einem Rollenspiel bilden sie einen Kreis, in dessen Mitte die Gruppenleiterin einem imaginären Gewaltopfer Erste Hilfe leistet. Vier neugierige Leute kommen vorbei. Sie wollen „nur mal schauen“, selbst mithelfen oder auch dem Opfer noch mal eins draufgeben. Die Jugendlichen versuchen es im gütlichen: „Hör zu, das ist ein Erste-Hilfe-Fall, der braucht etwas Luft um sich rum.“ Den aggressiveren Zeitgenossen versuchen sie zu beschwichtigen, brüllen notfalls zurück.

Zwischendurch beschwört Artemis immer wieder die Moral der Angels. „Wir sind keine Gang, wir sind da, um zu helfen. Wir helfen jedem!“ und „Wir arbeiten immer als Team. Angels müssen sich blind aufeinander verlassen können.“ Sie verweist auf Beispiele aus der zwölfjährigen Geschichte der Angels in den USA und in England, wie etwa eine zierliche Frau einen sechs Fuß hohen Mann allein durch ihre Stimme und Persönlichkeit in Schach gehalten habe. Auch der 5.000 Angels, die gerade patrouillieren, und der fünf, die bei Einsätzen gestorben sind, wird gedacht. Wenn die Konzentration der Gruppe nachläßt, geht es runter auf Zehenspitzen und Fäuste. Liegestütze sollen die Disziplin wiederherstellen. „Wenn wir trainieren, trainieren wir hart. Wir tragen keine Waffen, wir müssen die Techniken beherrschen.“ Bei der Patrouille könne man außerdem nicht sagen, jetzt gerade, wo drüben eine Frau angegriffen werde, sei man müde und habe keine Lust, einzugreifen. Die Teilnahme am Training, das jedem Interessierten offensteht, ist für Guardian Angels Pflicht. Erst nach 120 Stunden wird man zum Angel. Patrouillieren darf man allerdings schon nach zwei oder drei Wochen, immer zusammen mit erfahrenen Mitgliedern, sagt Chaco alias Laura Grothoff, Gruppenleiterin der Berliner Angels. Dreimal wöchentlich treffen sich die Gruppen, um in U- und S-Bahnen für mehr Menschlichkeit zu sorgen. In den seltensten Fällen kam es bisher zu tätlichen Auseinandersetzungen. „Meist reden wir mit den Leuten, wenn die Stimmung aggressiv ist. Wir sprechen auch die an, mit denen sonst niemand redet, und helfen alten Leuten.“ In zwei Fällen leisteten die Angels Erste Hilfe. Die Gruppe versteht sich weder als Konkurrenz noch als Ergänzung zu Polizei und Wachschutz. „Wir sind eine Menschenrechtsorganisation.“ Corinna Raupach

Kontakt: 787 46 33