Impfstoffe aus Europa helfen nicht

■ Brasilianische Variante des HIV entdeckt / Von der WHO entwickelte Impfstoffe sind wirkungslos in Brasilien

Rio de Janeiro (taz) – Die fieberhafte internationale Suche nach einem Impfstoff gegen die Immunschwäche Aids geht an Brasilien vorbei. Als ob die gegenwärtigen Schwierigkeiten nicht ausreichen, haben die rund 37.000 Aidskranken in dem südamerikanischen Land auch noch mit einem speziell brasilianischen Virus zu kämpfen. Ein brasilianisch-belgisches Forscherteam, das die brasilianische Virusvariante entdeckte, stellt deshalb die bisher von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) entwickelten Impftests für Brasilien in Frage.

Die vier brasilianischen und drei belgischen Wissenschaftler untersuchten im Zeitraum von 1987 bis 1992 die Blutproben HIV-infizierter Patienten im Universitätskrankenhaus „Gaffre e Guinle“ in Rio de Janeiro. Das auf Aidsforschung spezialisierte Krankenhaus verfügt über das größte Blutproben-Arsenal in ganz Lateinamerika. Insgesamt 5.500 Blutproben HIV-positiver Patienten sind dort zu Forschungszwecken konserviert. Zur Zeit werden in dem Krankenhaus 250 Kinder und 1.500 Erwachsene, die an der Immunschwäche leiden, behandelt.

Bei ihren Bemühungen, den Aidserreger zu isolieren, stieß das Forscherteam, das seine Ergebnisse im Juni auf der Aidskonferenz in Berlin vorstellte, auf einen vom internationalen Standard abweichenden Virustyp, genannt „V 3-368“. Eine Gruppe von Patienten, bestehend aus 38 Brasilianern, 36 Europäern und 35 Afrikanern, reagierte unterschiedlich auf die Einnahme von Anti-HIV-Substanzen. Die brasilianische Variante V 3-368 wurde bei 44,4 Prozent der Brasilianer nachgewiesen, aber nur bei elf Prozent der Europäer und 8,5 Prozent der Afrikaner. „Einige der isolierten brasilianischen HIV-Viren weisen Sequenzveränderungen auf, die in Europa und Afrika nur selten zu finden sind“, heißt es in einer Zusammenfassung des Forschungsberichts. Weil jedoch gerade diese Sequenzen äußerst wichtig für die Produktion von neutralisierenden Antikörpern seien, könnten diese einen entscheidenden Einfluß auf die Entwicklung eines Impfstoffs für Brasilien haben.

„Den typisch brasilianischen Virus muß man sich wie ein langes lockiges Frauenhaar vorstellen“, erklärt Aidsforscher Carlos Alberto Morais e Sa. Das dritte Löckchen zum Beispiel unterscheide sich von den anderen und deshalb würde sich die Strähne nicht mit der Norm, in diesem Fall dem Impfstoff, decken.

Paradoxerweise wurde das belgisch-brasilianische Forscherteam für seine Entdeckung vom brasilianischen Gesundheitsministerium nicht belohnt, sondern bestraft. Brasilia strich dem Universitätskrankenhaus „Gaffre e Guinle“ für dieses Jahr den Zuschuß in Höhe von zwei Millionen US-Dollar für die klinische Forschung. Morais vermutet, daß politische Motive dahinter stecken. „In Wirklichkeit haben wir damit das Programm der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in Frage gestellt. Die Impfstoffe aus Europa helfen uns nicht weiter, wir müssen unser eigenes Serum entwickeln“, erklärt der Professor.

Dabei ist Brasilien, nach den USA, Frankreich und Uganda das Land mit der höchsten Zahl von HIV-Infizierten, auf die Entwicklung eines Impfstoffes dringend angewiesen. Nach Schätzungen des brasilianischen Gesundheitsministeriums wird die Zahl der HIV-positiven Personen im Lande bis Ende 1995 auf eine halbe Million Menschen ansteigen. Zur Zeit sind 425.000 Brasilianer mit dem Virus infiziert.

Die Risikogruppe ist längst nicht mehr auf Homosexuelle oder Drogenabhängige beschränkt. „In Brasilien sind besonders die verheirateten Frauen gefährdet“, erklärt Professor Carlos Morais. Die Ehemänner würden ihre Bisexualität vor ihrer Frau geheimhalten. Durch dieses typisch brasilianische Verhalten sei auch die vehemente Zunahme HIV-infizierter Neugeborener zu erklären. Von 212 Kindern, die in den letzten zwei Jahren untersucht wurden, waren 80 Prozent von ihrer Mutter angesteckt worden. Im Jahre 1987 lag dieser Wert noch bei 29 Prozent. Der Anteil der Frauen, die sich den Virus durch heterosexuellen Geschlechtsverkehr zuziehen, liegt heute schon bei 54 Prozent. Vor sechs Jahren waren es noch 24 Prozent. Astrid Prange