■ Serie Denk-Mal: Das Gedächtnis des Ortes, Teil 10
: „Überall ist Stresemannstraße“

Es herrscht Krieg auf den Straßen. Die Kriegsflagge, schwarz- rot-gold mit Autobahnsymbol, fliegt voran im Kampf für die mobile Hochgeschwindigkeitsgesellschaft. Kriegstreiber sind die Automobilisten, die Autobranche und ihre Lobby. Ihre Opfer sind die Schwachen im Straßenverkehr. Gekämpft wird mit Blech und Motorkraft. Unter Kriegsfolgeschäden leiden die Umwelt und die Volkswirtschaft.

Kriegsopfern werden Denkmäler gesetzt.

Für Nicola S. hing ein Holzkreuz mit roten Nelken an einer Straßenlaterne. Eine Art des modernen Mahnmals, das unprätentiös den Erfordernissen der Zeit entspricht und die Votivkapellen am Wegrand verdrängt hat.

Ende August 1991. Die neunjährige Nicola steht mit ihrem Fahrrad an einer Ampel in der Hamburger Stresemannstraße. Sie ist auf dem Weg nach Haus. Rush-hour auf Hamburgs wichtigster Verkehrsader, der „giftigsten Straße Deutschlands“. Mehr als 60.000 Fahrzeuge brettern täglich durch das Wohngebiet in St.AKZENT F1Pauli, davon 6.000 LKWs auf vier Spuren. Die Ampel springt auf Grün, Nicola tritt in die Pedale. Den Vierzigtonner, der bei Rot über die Ampel donnert, sieht sie nicht. Sie stirbt noch an der Unfallstelle. Erst fünfzig Meter weiter kann der Fahrer den Sattelschlepper stoppen. Der 25jährige Dresdener versucht zu flüchten.

Unfall? Normalfall. Ein Blutopfer, das allein in der Bundesrepublik jährlich zigtausendfach gebracht wird. Verkehrssicherheit dient dem Bundesverkehrsminister dazu, den „Freiraum in der mobilen Gesellschaft“ zu erhalten. Die Kirchen formulierten es 1987 theologisch: „Der Straßenverkehr ist eins der wichtigsten Entfaltungsmittel menschlichen Lebens.“ Blutzoll – dem automobilen Leben zuliebe, an dem die meisten teilhaben und profitieren, den die meisten hinnehmen, wie einen notwendigen Tribut an moderne Götter und die vaterländische Wirtschaft.

Nur manchmal scheint das Opfer zu groß, zu ungerecht. Nicolas Tod machte die Stresemannstraße mobil. Sie war das sechste Kind, das hier in den letzten Jahren zu Klump gefahren wurde. Frauen und Kinder in erster Linie fingen an, täglich die Ausfallstraße zu blockieren. Tempo 30! Verkehrsberuhigung! Verbannung des Schwerlastverkehrs! Ab 16 Uhr war St. Pauli ein Autofriedhof.

Kids setzten dem toten Mädchen jeden Tag neu ein ephemeres Denkmal: Barrikaden aus Müllcontainern und Bauschutt. Nachts wurden sie von der Polizei weggeräumt. Um die Freiheit der Andersdenkenden zu gewährleisten, wollte der Hamburger Innensenator das eigentlich mit Wasserwerfern und Schlagstöcken erledigen. Doch mit Gewalt gegen Kinder vorzugehen, erschien den Vätern bei der Polizei allzu barbarisch.

Zwei Wochen ertrug die Hamburger Regierung das Chaos. Verkehrspolitische Debatten, dumpfe Wut der Automobilisten, entschlossene Aktionisten. Dann gab der Senat nach. Zuerst Tempo 40 auf der Stresemannstraße, dann Tempo 30. Die vier Spuren wurden auf zwei verengt, zwei Busspuren eingerichtet. Ein verkehrspolitischer Salto mortale auf einer Hauptverkehrsstraße. Als Dank rief ein Aktionsbündnis einen Monat nach Nicolas Tod zur Demo gegen den Autowahn auf: Stadtweite Blockaden von Verkehrsknotenpunkten – „Überall ist Stresemannstraße.“

Inzwischen ist längst wieder ein Kind auf der Stresemannstraße überfahren worden. Neue Blockaden, neue Forderungen, denn der Schwerlastverkehr läuft nach wie vor über diese Achse. Der Stau ist permanent, der Lärmpegel verboten hoch. Die Anzahl der Autos hat sich durch Tempo 30 kaum verringert. Und wenn, dann auf Kosten der Nebenstraßen.

Kinder hatten nach Nicolas Tod Zebras gemalt, die über die Straße galoppierten. Heute ist ihr Fell abgefahren. „Autot“ wurde 1991 auf den Asphalt gesprüht. Übrig ist nur ein verwaschener Schimmer. An Nicolas Tod kann sich die Polizei, die hier Streife fährt, nicht erinnern. Man kann nicht jedes Kriegsopfer im Gedächtnis behalten. Bascha Mika

Am Donnerstag: Am Pranger von Schwäbisch Hall