Die Stricher werden immer jünger

Seit Mauerfall und Grenzöffnung hat sich die Situation am Bahnhof Zoo verschärft / Bezirksamt Charlottenburg legt Bericht über jugendliche Stricher und Menschenhandel vor  ■ Von Corinna Raupach

Zur Zeit wird am Bahnhof Zoo ein regelrechter Handel mit ausländischen Jungen im Alter von zwölf bis 15 Jahren beobachtet. „Jungen aus Polen, der Tschechischen Republik und Rumänien werden aus ihren Herkunftsländern nach Berlin geholt und von Hand zu Hand weitergereicht und ausgebeutet“, heißt es in einem Bericht des Bezirksamtes Charlottenburg, der morgen der Bezirksverordnetenversammlung vorgelegt wird. Auf eine Anfrage der SPD zur Situation jugendlicher Stricher am Bahnhof Zoo und am Breitscheidplatz verfaßten die Abteilungen Gesundheit sowie Jugend und Sport einen fünfseitigen Bericht. Nach ihren Erkenntnissen hat die Zahl jugendlicher Stricher am Zoo und am Breitscheidplatz seit der Öffnung der Mauer und der Grenzen nach Osten nicht nur zugenommen. Die Stricher werden auch immer jünger, der jüngste ist derzeit neun Jahre alt. Die einen sind von zu Hause oder aus dem Heim ausgerissen, haben Mißhandlungen oder sexuellen Mißbrauch erlebt, und oft sind die Eltern Alkoholiker. Um ein Bett für die Nacht zu haben, müssen sie sich prostituieren. Die andere Gruppe, zu der vor allem Stricher ab 14 gehören, will homosexuelle Neigungen auf dem Strich ausleben, für die sie sonst von ihrer Umgebung abgelehnt werden. Beide Gruppen sind „hochgradig aidsgefährdet, da sie kaum sexuelle Erfahrung haben“, Aids als Problem „der anderen“ verdrängen und den Freiern glauben, die sagen „ich passe schon auf“, so der Bericht. Andere ließen sich aus Schlafplatznot sexuelle Praktiken gefallen, viele werden auch vergewaltigt.

Die MitarbeiterInnen des Gesundheitsamtes befürchten, daß die Gewalt gegen Stricher und die Vergewaltigung von Jungen durch Freier noch zunimmt. Die Beratungsstelle Geschlechtskrankheiten des Gesundheitsamtes unterhält am Zoo einen Beratungsbus, wo Stricher und Junkies betreut und über Aids aufgeklärt werden und Kondome bekommen. Informationen über gewalttätige Freier werden gesammelt und die Selbsthilfegruppe „Aufstrich“ gegründet. Die Abteilung Jugend und Sport finanziert anderthalb Streetworkerstellen, die jedoch vor allem am Klausener Platz arbeiten.

Eine Verbesserung der Situation könne nur erreicht werden durch eine Ausweitung der Sozialarbeits-, Beratungs- und Streetworkprogramme, so der Bericht. Auch sei eine Nachfolgeeinrichtung sinnvoll, die kurzfristige Unterbringung mit der Vermittlung von anschließenden Hilfen verbinde. Dafür aber fehlt dem Bezirk das Geld. „Die Jugendhilfe ist in den meisten Fällen auch gar nicht zuständig“, sagt Jugendamtsdirektorin Uta von Pirani. Das betrifft sowohl die Kinder und Jugendlichen aus allen Bezirken Berlins als auch aus dem Um- und Ausland sowie den alten Ländern. Hier sei der Senat gefragt. Ein bezirksübergreifendes Konzept verlangt auch Gesundheitsstadträtin Annette Schwarzenau (Bündnis 90/Grüne). „Wir können uns trotzdem nicht aus der Verantwortung stehlen.“