■ Nach dem Urteil des BVerwG zur Koedukation im Sport
: Grenzen der Anerkennung

Das Grundrecht der Religionsfreiheit ist wichtiger als die Koedukation im Sportunterricht, die in NRW in den staatlichen Schulen vorgeschrieben ist. Das Bundesverwaltungsgericht hat mit diesem Entscheid dem Anspruch einer streng den Geboten des Koran verpflichteten Schülerin auf Befreiung vom gemeinsamen Sport stattgegeben. Mit diesem Urteil ist eine gefährliche Richtung eingeschlagen, an deren Ende nicht ein rechtlich ausgestalteter Multikulturalismus stehen könnte, sondern unlösbare Konflikte sich ausschließender ethnisch-kultureller „Identitäten“.

Wenn es den Eltern, die in dem zitierten Verfahren klagten, wirklich nur darum gegangen wäre, die religiösen Gefühle ihrer Tochter zu schützen, hätten sie sie mit Kopftuch und Trainingsanzug ausstatten können. Es geht aber gar nicht um das Recht, Kopftücher zu tragen oder sich zu verhüllen. All dies ist zugestanden, als Ausdruck des Rechts, den Traditionen einer uns fremden Kultur, eines anderen Verhältnisses zum Körper, eines anderen Schamgefühls nach zu leben. Aber hier wird die Segregation angezielt. Der Witz bei diesem Verfahren ist das Begehren der Eltern, ihrer Tochter den Anblick nackter Knabenbeine zu ersparen. Man könnte diesen Anspruch leicht mit dem Hinweis der Lächerlichkeit preisgeben, daß die Tochter sich dann gleich von der bundesrepublikanischen Gesellschaft verabschieden müsse – wäre nicht genau dies die Absicht der religiösen Eiferer.

Jede Minderheit hat Anspruch auf gleichberechtigte Anerkennung. Das schließt das Recht ein, vom Staat die Förderung all dessen zu beanspruchen, was ihre kulturelle Identität ausmacht. Aber als StaatsbürgerInnen sollen alle gleich sein. Artenschutz ist kein Ziel multikultureller Politik. Jeder/jede soll die Möglichkeiten haben, die Tradition, in die er/sie hineingeboren wurde, anzunehmen – oder sie zu verwerfen. Die Möglichkeit der Wahl muß gesichert werden. Deren Voraussetzung ist die tägliche Konfrontation der Kulturen. Koedukation ist notwendig.

Verlängert man das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts in einer geraden Linie, so ist die Richtung der nächsten Klagen klar. Befreiung vom Biologieunterricht, weil dort die Darwinsche Abstammungslehre zur Sprache kommt – eine Beleidigung für jeden Rechtgläubigen. Befreiung vom Sexualkundeunterricht sowieso, schließlich von der Staatsbürgerkunde, weil dort die verderblichen universalistischen Theorien gelehrt werden. Opfer sind die Kinder, die um ihre Chance gebracht werden, sich zu selbstverantwortlichen Menschen zu bilden. Opfer ist aber auch eine Politik der Integration, die die Kulturen der Minderheiten achtet, aber auch die Menschen und Bürgerrechte derer, die ihr angehören. Christian Semler