Streit um Gatt hält an

■ Kohl lobt deutsch-französische Zusammenarbeit, Differenzen bleiben

Berlin (taz) – Es war kein Zufall, daß der EG-Vizepräsident Karel Van Miert kurz vor dem Treffen von Bundeskanzler Helmut Kohl mit dem französischen Premierminister Eduard Balladur düstere Gedanken formulierte. Die Gemeinschaft lebe gefährlich in diesen Tagen, orakelte er, und wenn sie nicht bald wieder auf die Schienen gestellt werde, dann drohe sie weiter zu entgleisen. Mit dem ziemlich schiefen Bild wollte Van Miert die beiden Regierungschefs warnen, denn das gestörte deutsch-französische Verhältnis belastet zunehmend die Europäische Gemeinschaft. Nun müßte man sich darüber nicht allzu viele Gedanken machen, die allherbstliche Beziehungskrise zwischen den beiden Ländern hat eine lange Tradition. Doch anders als früher geht es nicht um die üblichen gegenseitigen Vorwürfe, die andere Seite führe sich wieder mal besonders arrogant auf oder lasse die nötige Bereitschaft zur Verständigung vermissen. Im Gegenteil: Deutsche und französische Politiker begegnen sich zur Zeit mit ausgesuchter Höflichkeit, und es fehlt auf beiden Seiten auch nicht an wilder Entschlossenheit, die europäische Sache voranzubringen. Kohl und Balladur lobten gestern ausdrücklich die freundschaftliche Zusammenarbeit. Um so klarer treten die unterschiedlichen Vorstellungen zutage, wie Europa aussehen soll.

Besonders deutlich wird das beim Streit um die europäische Gatt-Position. Die Bundesregierung möchte an der sogenannten „Blair-House-Vereinbarung“ zwischen der EG und den USA festhalten. Darin sichert die EG u.a. zu, die hochsubventionierten Agrarexporte deutlich zu verringern. Frankreich will dieses mühsam geschnürte Paket, bei dem auch die USA Handelserleichterungen zusagen, wieder aufknöpfen. Balladur findet, daß Frankreich ein Recht auf landwirtschaftliche Exportüberschüsse hat, weil das immer schon so war. Auch in anderen Branchen erwartet die französische Regierung von der EG, daß sie die europäische Wirtschaft vor unliebsamer Konkurrenz schützt. Die Bundesregierung zeigt zwar in Einzelfällen selbst protektionistische Neigungen, etwa bei maroden Stahlbetrieben, aber vor Publikum fordert sie stets den Abbau von Handelsschranken. Die unterschiedlichen Auffassungen gibt es schon lange. Daß sie jetzt so stark hervortreten, hat zwei Gründe. Zum einen sinkt in Krisenzeiten die Bereitschaft, nationale Interessen einem gemeinsamen Ziel unterzuordnen. Zum anderen ist die europäische Integration an einem Punkt angekommen, wo unterschiedliche Positionen in der Handelspolitik jeden weiteren Schritt in Richtung auf die Europäische Union blockieren. Alois Berger