■ Short Stories from America
: Kurze Lesehilfe gegen längerfristiges Unverstehen

Die taz vermag viel. Letzten Monat brachte sie einen Artikel von mir, in dem ich mir über die Frau von Hosni Mubaraks oberstem Leibwächter Sorgen machte. In diesem Monat nun explodierte eine Bombe nahe der Autokolonne von Ägyptens Innenminister und Sicherheitschef Hassan al-Alfi, einem ehemaligen Polizeigeneral. Der Minister wurde verwundet, einer seiner Leibwächter sowie mehrere Passanten kamen ums Leben. Bisher hat keine der radikalen fundamentalistischen Gruppen die Verantwortung für das Attentat übernommen. Kann es die taz? Kann irgend jemand daran zweifeln, daß zwischen diesen beiden, nur wenige Wochen auseinanderliegenden Ereignissen eine Verbindung besteht? Meinen Redakteuren danke ich sehr, daß sie mir Gelegenheit gaben, in die Weltgeschichte einzugreifen. Die fundamentalistischen Leser der taz scheinen jedoch gewisse Schwierigkeiten mit Satire zu haben – vielleicht könnte ein erklärender Text zum Thema Ironie helfen, die Feinheiten des Journalismus besser zu verstehen. So könnte jedem Exemplar der taz eine Passage aus der „Lesehilfe“ für amerikanische Volksschulen beigelegt werden – zusammen mit dem Wochenendangebot der Supermärkte.

Auch die amerikanische Öffentlichkeit hat so ihre Schwierigkeiten zu verstehen, was ihr schriftlich vorgelegt wird. Besonders die Begriffe „lang“ und „kurz“ scheinen ihr Probleme zu bereiten. Wie der Soziologe Christopher Jencks in der New York Times berichtet, übersteigt die Unterscheidung zwischen „in the long run“ und „in the short run“ (lang- und kurzfristig) die Verstehensfähigkeit der amerikanischen Erwachsenenbevölkerung. Am Wort „run“ kann es nicht liegen, denn in der amerikanischen Sportsprache kommt es häufig vor. Das kennen die Amerikaner – also muß das Problem bei „lang“ und „kurz“ liegen. Professor Jencks erwähnt zum Beispiel Clintons ursprünglichen Wirtschaftsplan, der kurzfristige Konjunkturspritzen mit einem langfristigen Plan zur Reduzierung des Defizits verband. „Ein Plan, nach dem Washington kurzfristig mehr, langfristig aber weniger ausgab, war für die Wähler einfach zu kompliziert.“ Vielleicht könnte die New York Times jedem Exemplar einen erklärenden Text aus der „Lesehilfe“ beilegen, damit die Wähler die Feinheiten des Wirtschaftsplans besser verstehen – zusammen mit dem Wochenendangebot für Futons.

Auch Präsident Reagan war überzeugt, daß die Amerikaner mit lang und kurz ihre Schwierigkeiten hatten. 1984 entwickelte das Pentagon einen komplizierten Plan, um die Sowjetunion glauben zu machen, die Star-Wars-Raketen seien leistungsfähiger, als sie wirklich waren. Reagan täuschte nicht nur die Sowjets, sondern auch den Kongreß – weil er überzeugt war, die Abgeordneten könnten nicht verstehen, daß die kurzfristigen Ausgaben für den Bau und die Propagierung des Star-Wars-Programms langfristig im Kalten Krieg nützlich wären. Hätten sie das verstehen können, dachte sich Reagan, dann hätten sie auch nichts dagegen gehabt, 30 Milliarden Dollar für Schrott auszugeben. Deshalb ersparte er dem Kongreß die Mühe, sein Star- Wars-Programm zu überprüfen, weil darin die Worte lang und kurz vorkamen. Als die New York Times kürzlich diese Geschichte bekanntmachte, war der Kongreß, der die „Lesehilfe“ bereits besitzt, höchst verärgert.

Auch Clinton hat mit kurz und lang seine Probleme. Anfang August gab er bekannt, die Arbeitslosenzahl sei auf 6,8 Prozent gesunken, und seit Januar seien 1.230.000 Arbeitsplätze geschaffen worden. Aber 60 Prozent dieser Arbeitsplätze sind Teilzeitjobs, befristet, bieten keine Sozialleistungen, zahlen nur Mindestlohn oder liegen weit unter Ausbildungs- und Geschicklichkeitsniveau. Wer als „freiberuflich“ eingestuft ist, aber kein Einkommen hat, kommt in den Zahlen nicht vor. Die Zahl der Arbeiter, die fünfzehn Wochen oder länger arbeitslos sind, ist um 188.000 gestiegen, und das Verteidigungsministerium schätzt, daß bis 1997 zusätzliche 1,9 Millionen ihre Arbeitsplätze verlieren. Das ist die langfristige, nicht die kurzfristige Perspektive. Aber Mr. Clinton, der ehemalige Rhodes-Stipendiat, kennt die „Lesehilfe“ nicht.

Auch die Stadtverwaltung von New York hat ihre Probleme mit lang und kurz. Joanna Morgan aus Brooklyn versuchte dem Wohnungsamt klarzumachen, es ergäbe nicht viel Sinn, wenn es 3.200 Dollar monatlich dafür zahlen, um sie (kurzfristig) in eine Übergangsunterkunft zu stecken, obwohl sie (langfristig) in ihrer eigenen Wohnung bleiben könnte, wenn ihr monatlicher Mietzuschuß um 100 oder 200 Dollar erhöht würde. Aber die Politik der Stadt ist nun einmal, maximal 250 Dollar monatlich für langfristige Mietbeihilfen auszugeben, aber 3.200 Dollar monatlich für kurzfristige Unterkünfte. Mrs. Morgans Sohn bot den Beamten die „Lesehilfe“ an – aber die wußten gar nicht, was das war.

Bei seiner letzten Amerika- Reise ist auch der Papst mit kurz- und langfristig durcheinandergekommen. Er drängte besonders die jungen Menschen, sich nicht auf Geburtenkontrolle einzulassen, Kondome inbegriffen, obwohl noch zwei Wochen vor seiner Ankunft die Gesundheitszentren zu berichten wußten, daß die wichtigste Aids-Ursache bei amerikanischen Frauen der heterosexuelle Geschlechtsverkehr sei. Der Papst mahnte, wegen der langfristigen Vorzüge der Keuschheit auf die kurzfristigen Freuden des Sex zu verzichten. Ich bewundere den Papst für seine Bemühungen, lang und kurz richtig anzuwenden. Mir schwebt jedoch eher vor, die kurzfristigen Freuden des „ehelichen Zwecks der Körper“ für die lange Frist der Lebenszeit abzulehnen. Marcia Pally

Aus dem Amerikanischen von Meinhard Büning