Stars, Fans etc.
: Jenseits der Wahrheitsfrage

■ Michael Jacksons Bett im Lichte der Aufklärung. Der Fall Jordan Chandler

Das Land Es ist das Land der Puritaner und der Libertins. Im weiten Binnenland, in Suburbia wird die heilige Familie von den Prinzipien der öffentlichen Moral behütet. An den Küsten, in den Zentren probt die Libido den Aufstand. Was alle eint, ist die Sehnsucht nach Konsum, ob als Siegel der Wohlfahrt oder Schlüssel zur Verderbnis: Amerika.

Die Liebe Er ist nicht ein Star, nicht der Star, nicht ein Superstar, sondern der Superstar. Er hat eine Autopanne. In der Nähe der Firma von Herrn Schwartz, und Schwartz kann helfen. Und der hat einen Stiefsohn, Jordan Chandler, dreizehn Jahre alt. Der findet Michael Jackson natürlich toll, und Michael Jackson findet ihn toll. Jackson hofiert den Jungen, ruft ihn oft an, lädt ihn auf seine Neverland-Ranch ein, nimmt ihn auf Reisen mit. Nicht nur ihn, auch seine Mutter June Schwartz, früher Frau Chandler, der das glitzy life in der Nähe des Superstars gefällt. Und die kleine Halbschwester von Jordan ist dabei, Lily, 5. Ganze Horden von Kindern und Halbwüchsigen lädt Jackson zu sich ein.

Was Jordan Chandler vor zwei Wochen dem Kinderdienst des Kreises Los Angeles in der Person Ann Rosatos in Anwesenheit eines (oder einer) Sergeant Felix von der nicht erst seit Rodney King so beliebten Polizei von L.A. zu Protokoll gibt, kann man lesen als Geschichte einer ungleichen Liebe mit ungleicher Sexualität. Michael Jackson hat den Jungen, sofern dieser nicht lügt, schrittweise verführt, im Bett und in der Badewanne, vom abgewehrten Zungenkuß bis zur oralen Befriedigung des Jungen durch seinen älteren Partner alles inbegriffen. Der Dreizehnjährige schildert sich als widerstrebend bis passiv, aber das häufige Zusammensein hat keine Folgen; es ist nicht Jordan Chandler, der die Beziehung beendet, und auch nicht Jackson...

Die Mischpoke...sondern der leibliche Vater des Jungen, Evan Chandler, der dabei ist, der Mutter des Jungen die Vormundschaft streitig zu machen. Im Juli zwingt Chandler seine Ex-Frau, eine Absprache zu unterzeichnen, in der sie sich verpflichtet, alle Kontakte zu Jackson abzubrechen. Mitte August untersagt ein Gericht dem Vater, den Jungen bei sich zu behalten. Am Tag darauf beginnen die Untersuchungen der Polizei. Es heißt, von dem „Mißbrauch“ habe zunächst ein Therapeut erfahren, der dies nach kalifornischem Recht an die Behörden weitergeben muß. Den Besuch beim Therapeuten hatte wiederum der Vater des Jungen veranlaßt, von dem Jacksons Privatdetektiv Anthony Pellicano behauptet, er habe mehrmals versucht, den Superstar um 20 Millionen Dollar zu erpressen; Begehren dieser Art sei Jackson 25- bis 30mal jährlich ausgesetzt.

Die „persona“ Michael Jackson, zur Zeit auf ausverkaufter Asientour unterwegs, bestreitet die Vorwürfe komplett. Was ihm jetzt aber schon vorhergesagt wird, ist ein rasanter Absturz, der dem bereits spürbar gewordenen Verfall seines Marktwertes folgen werde. Jackson hat sein Image zugleich auf Expansion und Stagnation gebaut. Das, was die Amerikaner persona nennen, war das Blow-up einer rätselhaften Lebensform: Der immer weißer, immer androgyner gewordene Junge aus einer berühmten schwarzen Entertainerfamilie, dessen zuckender Griff an die eigene Hose zum Markenzeichen eines unangreifbaren Narzißmus geworden war, mit dem sich Heerscharen frühreifer Kinder bestens identifizierten. Mit gerade 35 Jahren ist Jackson noch immer ein begnadeter Tänzer mit hervorragender Choreographie, aber auch die Hülle eines gigantischen Versprechens, dessen beunruhigend doppelten Boden viele zu spüren meinten. Tragödien erkennt man an aufziehenden Wolken. Hinter der persona stand das blasse Bild einer irgendwie technischen Person, phobisch eingesperrt in die Maschine des Erfolgs.

Die Wahrscheinlichkeit Was Jordan Chandler der Therapeuten-, Spezialisten- und Strafrechtsinnung zu Protokoll gibt, klingt nicht ganz unwahrscheinlich. So, in etwa, könnte Jackson in eine erste oder erste bekannt gewordene Geschichte mit einem Jungen, der ihn bewundert, hineingeraten sein. Aus Jacksons Sicht als Gestrandeter bei Schwartz Rent A Wreck durfte er sich gegenüber dem Jungen als gottähnliche Erscheinung fühlen; es gab bei dem Jungen ein Problem mit zwei Vaterfamilien; und die Mutter billigte offenbar die psychosozialen Veränderungen, die mit der plötzlichen Zuneigung des Superstars gegenüber Jordan zu sehen gewesen sein müssen. Jackson, in den Armen des exemplarischen Fans, mag sich als das gefühlt haben, was er als persona überzeugend darstellt: als im Frühpubertären erstarrter Träger eines ungefährlichen, selbstbezogenen Eros. Schon bestätigen die Fachkräfte, Jordans Aussage sei glaubhaft.

Das hatte es allerdings auch von der Aussage von Woody Allens kleiner Tochter Dylan geheißen. Daß im Hintergrund der Anschuldigungen ein Vormundschaftsstreit steht, weckt schon den Eindruck, das umstrittene Kind Jordan habe nicht den denkbar unglücklichsten Augenblick für sein Bekenntnis gewählt, sondern sei aufs Übelste gebrieft worden. Wie ein britischer Kommentator bemerkt hat, wartet auf Jordan Chandler im schlimmsten Fall die Rolle von Anita Hill. Die dürfte seiner Entwicklung mit Sicherheit mehr Schaden zufügen als der heimliche Sex mit einem bewunderten älteren Mann.

Das Geheimnis Michael Jackson galt als großer Kinderfreund, als naiver Wohltäter, als in Ehren Regredierter. Welche Sexualität er lebt oder nichtlebt, hat er verbergen können, aber anders als bei sämtlichen anderen Menschen auf dieser Erde wurde bei ihm an dieser Stelle kein Geheimnis vermutet. Es war ihm gelungen, die Wahrheitsfrage von sich abzuschütteln. Daß seine persona auf die Libido kindlicher Bewunderung abgestellt war, galt als vollständige Auskunft. Jetzt kommt die Polizei von Los Angeles zu Besuch, um in den Schubladen des Superstars erfolglos nach Indizien zu stöbern. Jetzt bricht das Licht des Verhörs/des Bekenntnisses ins Reich von Neverland. Eins ist nun klar: Michael Jackson ist mit frühpubertären Jungen ins Bett gegangen; egal, ob der Kontakt indifferent zärtlich war oder sexuell konkret, es ist eine Präferenz. Das Licht der Aufklärung in den Schlafkammern des Bewußten und des Unbewußten: Ei, wie die Farben schillern. Horden von Experten stehen bereit, sie staunend zu deuten. Ulf Erdmann Ziegler