Frische Brise im Osten

An der Ostseeküste entstanden 1.000 neue Arbeitsplätze für nur zehn Millionen Mark / Kombination von Wirtschafts- und Arbeitsförderung  ■ Von Florian Marten

Hamburg (taz) – „Wenn ich in die Zeitung gucke, dann lese ich immer, ich sei fad.“ Rudolf Scharping, Typ fader Enkel, blickt erwartungsvoll in den prall gefüllten SPD-Saal. Doch kein Widerspruch regt sich. Die Pointe muß her. Scharping nimmt mit gequältem Lächeln Anlauf, dann kommt sie: „Bei uns ist es doch sonst immer umgekehrt: Wir beginnen begeistert und enden ernüchtert. Ich beginne nüchtern...“ – mäßiger Beifall. Da legt Scharping nach: In seinem Musterländle investiert Opel gerade 500 Millionen Mark! Für 470 Arbeitsplätze. So ist das heute. Unter einer Million kriegst du keinen ordentlichen Industriearbeitsplatz mehr. Scharping: „Damit sich das rechnet, müssen die Maschinen länger laufen.“ Das Modell Deutschland, Typ Aufschwung West, nach dem Geschmack des letzten SPD-Hoffnungsträgers.

Auch Bernd Spieß ist Sozialdemokrat. Und, wie Scharping, aktiver Industrie- und Arbeitsmarktpolitiker. Ihm hören jedoch nur ein paar Journalisten zu, die sich zu einer Pressekonferenz der IG Metall Küste in Bergedorf verirrt haben. Kein Wunder, schließlich ist Spieß im Hauptberuf nicht Hoffnungsträger, sondern bloß einer jener Westbeamten, die sich aus dem warmen Schoß einer West-Behörde in den wilden nahen Osten verirrt haben.

Die Botschaft von Bernd Spieß aber ist sensationell: Mit bloß zehn Millionen Mark gelang es der Trägergesellschaft Schiffsbau (TGS) in Mecklenburg-Vorpommern, in 21 Betrieben fast 1.000 zukunftsweisende Arbeitsplätze zu schaffen.

Modell Deutschland, Typ Aufschwung Ost? Immerhin ist das TGS-Wirtschaftswunder sage und schreibe hundertfach effizienter als Scharpings Pfälzer Opel-Glück.

Konversion auf dem Arbeitsmarkt

Und wirklich: Hier oben, wo der deutsche Osten am flachsten ist, wird wohl zum ersten Mal erfolgreich vorgeführt, wie jene moderne Industrie- und Arbeitsmarktpolitik aussehen könnte, die bisher nur auf Gutachterpapier stattfindet: dezentral, vernetzt, ökologisch ausgerichtet, auf die Bedürfnisse der Region ausgerichtet, arbeitsplatzorienitert, den Menschen angepaßt.

Zum Beispiel Wolgast: Hier werkelten bis vor kurzem in böser Rüstungstradition noch die Kriegsschiffskonstrukteure der Peenewerft. Die Forschungs- und Entwicklungsabteilung dieser sozialistischen Waffenschmiede ist heute ein Ingenieurbüro mit 17 ehemaligen ABM-Leuten. Erstes Produkt ist eine in einem Container transportable Anlage zur Entschlammung und Sanierung von Flachgewässern. Die Patentanmeldung läuft, an drei mecklenburgischen Seen wird das Gerät demnächst erprobt, das die durch ungeklärte Abwässer verdreckten Gewässer Mecklenburgs säubern soll – gut für die Tourismusbranche. Eine andere ABM-Ausgründung wird die Anlage bauen, Marketinganalysen laufen, Gemeinden und Landkreise, die Interesse an der Gewässersanierung zeigen, werden auch in Sachen Finanzierung und Einsatz beraten.

Möglich gemacht hat dieses kleine strukturpolitische Wunder die TGS. Sie ist die Dachgesellschaft aller Beschäftigungsgesellschaften, welche die Vernichtung der Werftarbeitsplätze an der Ostsee begleiten. Von einst 53.000 Arbeitsplätzen sind heute gerade noch 12.000 übrig. Das TGS-Chef- Duo Martin Betz und Bernd Spieß begnügte sich nicht damit, „Auffangbecken beim Arbeitsplatzabbau“ zu spielen. Projekte initiieren, die schier unüberwindbaren Mauern zwischen erstem und zweitem Arbeitsmarkt einreißen, sinnvolle Unternehmen und Produkte fördern, Existenzen gründen – so der anspruchsvolle Zielkatalog.

Ziel: Es besser als in Hamburg machen

Bernd Spieß brachte bittere Erfahrungen vom großen Hamburger Werftensterben in den achtziger Jahren mit. Als Amtsleiter in der Arbeitsbehörde der Hansestadt hatte er dem SPD-Senat gerade ein kleines Modellprojekt abringen können: Öko-Tech, eine mit Stadtstaatshilfe gegründete Beschäftigungsgesellschaft, bietet seither gerade hundert von vielen tausend der damals arbeitslos gewordenen Werftarbeitern Qualifizierung und Erwerbseinkommen. Die Chance einer aktiven Strukturpolitik wurde in Hamburg verschlafen. Der damalige Stadtchef Klaus von Dohnanyi, heute als Industrieberater im konventionellen Ostaufbau tätig, hatte die Parole ausgegeben: „Ohne Unternehmer läuft nichts.“ Parallel dazu hatte Dohnanyi Hamburg zwar mit ABM-Projekten zur westdeutschen Hauptstadt des zweiten Arbeitsmarktes gemacht, dadurch aber die Gräben zwischen Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspolitik eher noch vertieft.

Es in Mecklenburg-Vorpommern besser zu machen, das hatte Bernd Spieß gereizt, als er 1991 als Geschäftsführer zur TGS in Rostock wechselte. Die Not des brutalen Strukturbruchs eröffnete Freiräume. Von Beginn an verknüpften sie Beratung, Qualifizierung und regionale Industriepolitik. Ein 25-Millionen-Sonderprogramm, auf Initiative von TGS und IG Metall mit Geldern der Treuhand, des Landes und aus Sozialplanmitteln der Werften zustandegekommen, eröffnete jenen Spielraum, mit dem die neue Politik verwirklicht werden konnte. Inzwischen verfügt die TGS mit ihren Beschäftigungsgesellschaften über ein breites Netzwerk und ausgezeichnetes wirtschaftspolitisches Know-how. Gezielt werden Projektmittel jetzt zur Gründung von Unternehmen aus Arbeitsbeschaffungsprojekten genutzt. Spieß: „Wir unterstützen Existenzgründer, die keine Bank auf dem Zettel hat.“ Durch geschickte Beratung vervielfachen sich die Fondsmittel: Die bisher eingesetzten 10,5 Millionen DM aus dem von TGS-Mitarbeitern, Treuhand und Land verwalteten Fonds sogen zusätzliche 43 Millionen DM an – EG-Mittel, Förderungen des Landes, Arbeitsförderungsmittel, aber auch Erträge der AB-Projekte.

Der Osten als Vorbild?

Spieß ist begeistert: „Wir haben hier erstmals Mittel der Wirtschafts- und Arbeitsförderung kombiniert. Das sollte auch im Westen möglich sein. Unser Know- how drängt sich für einen Ost-West-Transfer geradezu auf.“ Unterstützung fand Spieß auch bei den Industrie- und Handelskammern: „Wir haben keinen Widerstand des ersten Arbeitsmarkts gegen unsere Politik erlebt." Das ist im Westen heute noch unvorstellbar. Erster Arbeitsmarkt buchstabiert sich dort immer noch nach dem Alphabet von Hoffnungsträger Scharping: High-Tech, Maschinenlaufzeit, eine Million pro Arbeitsplatz.