Wand und Boden
: 84 Hundertstel vor Mitternacht

■ Kunst in Berlin jetzt: Jo Schöpfer, John Hilliard, Horst Hussel und Alexander Olbricht, Arno Fischers Schüler

Was in der skulpturalen Fülle eifriger Konzeptkunstproduktionen oft verlorengeht, ist die Idee der Form, ohne die Strukturen gar nicht erst sichtbar würden. Insofern baut Jo Schöpfer mehr, als daß er am Diskurs mitschreibt. Selbst wenn er zeichnet: Den Skizzen und Entwürfen der frühen Minimal art ähnlich, richtet Schöpfer Raummaße und -verhältnisse ein, die sich vom Rechteck ausgehend in unzählige Waben und unregelmäßige Kästchen unterteilen. Bei den Zeichnungen endet die Rechenaufgabe im unendlich Allgemeinen als fraktales Gitternetz, organische und anorganische Konstruktionen halten sich die Waage. Das starre Muster nähert sich wieder der Natur an, so als wären zahllose aneinandergrenzende Zellkerne vergrößert und im Querschnitt abgebildet worden.

Das Wechselspiel von Ebenmaß und Unregelmäßigkeit wird mit kleinformatigen „Turm“- Skulpturen um die Opposition horizontaler und vertikaler Achsen erweitert. Ein knapp 40 Zentimeter hoher Bronzeguß bildet aus sieben parallelen Säulen eine gleichförmige Einheit, während sich das skelettierte Objekt in der Draufsicht aus einem Fünfeck und einem schiefen Quadrat zusammensetzt. Für dieses Bauprinzip ist die Spannung zwischen dem transparent gehaltenen Eigenraum und seiner Umgebung entscheidend. Der Betrachter kann sich sowohl an den parallel gesetzten Eckpfeilern als auch an der polygonalen Grundfläche orientieren. Die Konstruktion entlarvt sich selbst als widerspenstige Relation von Flächen und Linien. Ein Baugerüst dieser Art würde vermutlich kippen, auch wenn es der Natur sehr nahe käme.

Bis 9.10., Friedbergstraße 34, Di-Fr 14-19 Uhr; Sa 11-14 Uhr

Sein oder Geschwindigkeit – John Hilliards konzeptuell ausgerichtete Foto-Szenarios fahren mit der Interpretationswut des Betrachters Achterbahn. Die nach eingescannten Motiven mit Tinte auf Vinyl gedruckten Bilder leben von der Unvereinbarkeit der abgelichteten Momente, die sich übereinander geschichtet aufzuheben scheinen. So verbindet etwa „Closed Circuit“ ein Videostandbild – im Negativ, seitenverkehrt – mit dem Farbfoto der gleichen Situation: Eine maskierte Gestalt ist im Begriff, sich vor laufender Kamera zu erschießen, am unteren Rand ist wie bei einem TV-Monitor der genaue Zeitpunkt der Belichtung eingeblendet. Es ist 23:59:16 – 84 Hundertstel vor Mitternacht.

Doch der dargestellte Moment des Bruchteils einer Sekunde wird im Aufeinandertreffen der verschiedenen Medien ad absurdum geführt. In der verdoppelnden Überlagerung erscheinen beide Eindrücke als unwirklich, ihre Gleichzeitigkeit löscht den festgehaltenen Augenblick der Handlung aus, die Aufzeichnung dominiert über das Geschehen. Diese Benjaminische „Dialektik im Stillstand“ findet sich auf fast allen Bildern wieder: „Shattered“ zeigt eine Frau im Auto, die ihrem eigenen Verkehrsunfall gebannt und tatenlos zuschaut, auf „Interference“ telefonieren ein Mann und eine Frau nebeneinander und miteinander, die Fotografie taucht beide in eine Art Zwischenreich. Die englische Sprache hat für diese Welt ein passendes Wort parat: „Twilight Zone“, wie für Gespenster gemacht. Die Fotografie ist ihnen seit William Fox Talbot auf der Spur.

Bis 20.10., Galerie und Edition Gutsch, Knesebeckstraße 29, Di-Fr 14-19 Uhr; Sa 11-14 Uhr

Guillaume Apollinaire hat zwar das geschriebene Wort zum Bild gemacht, doch das Handwerk der Buchillustration blieb davon unberührt. Noch immer ist das Bild der Schrift untergeordnet, zeigt, was sich hinter den Buchstaben verbirgt oder lenkt die Aufmerksamkeit für einen Moment auf Nebensachen, damit sich die Einbildungskraft ein wenig erholen kann. Wozu sollte sonst auch der Joyce-Taschenband zu „Finnegans Wake“ von einer netten, naturalistisch gestalteten Schutzfolie umhüllt sein? Das Haus am Lützowplatz (Nr.9) stellt mit Horst Hussel einen der prominentesten deutschen Buchillustratoren aus. Hussel, der Blickfänge zu Stefan-Heym-Texten und blühenden Mohn für das Gefängnistagebuch mit den Gedichten des Ho Chi Minh gestaltet hat, hält auf seinen Radierungen sehr merkwürdige Reisen durch den Kopf fest, die – in Massen gehängt – zu einer krakeligen, doch abgeschlossenen Welt verwachsen, wie bei Alice im Wunderland. Wollüstige Vögel schlüpfen aus obszönen Blütenkelchen, greise Gouvernanten verschmelzen mit dem Biedermeiermobiliar. Bei aller schillernden Bizarrerie haben die Traumgeschöpfe auf Hussels Bühne sehr wohl künstlerische Verwandtschaft: Daumier, Dali und Picasso.

Erstaunlicherweise nehmen aber die Scherenschnitte, Aquarelle und Vignetten von Alexander Olbricht den Löwenanteil der Ausstellung ein. Dabei ist der 1942 in Oberweimar gestorbene Olbricht meist der Natur verhaftet, die Kirche bleibt auf seinen mehrfarbigen Holzschnitten im Dorf. In der verknappten Farbgebung erinnert die gestalterische Sparsamkeit an Brücke-Künstler: Wiesen sind grün, die Erde braun, der Himmel blau, und der Grundton schwarz. Wer will, kann seine Phantasie jedoch an den Scherenschnitten austoben, bei einem liliendurchwirkten Reigen rund um venusmuschelartige Motive bleibt der Rorschach-Effekt nicht aus.

Bis 26.9, Di-So 11-18 Uhr

Die Entwicklung der Fotografie in der DDR geht zu einem nicht unerheblichen Teil auf das Wirken Arno Fischers an der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst zurück. Seit März 1990 leitet er außerdem eine Klasse in Dortmund an der Fachhochschule. Der NGBK hat diese Konstellation nun bis zum 26.9. auf einen Ausstellungsnenner gebracht: Leipzig trifft Dortmund in Berlin. Zehn StudentInnen zeigen, wie sich investigativ gesellschaftliche Wirklichkeit abbilden läßt. Die Darstellung wird dabei allerdings mitunter sehr steif und getragen, für Marc Wohlrabs szenische Dokumentation aus dem Alltag von „Wilfried R./Knecht“ hätte auch das ZDF Regie führen können. Doch entgegen dem bestätigenden Abbild der Lebenszusammenhänge sind gerade die Fotos mit Spannung aufgeladen, die sich nicht vordergründig ins Objekt einfühlen.

Die Portraits aus dem Kinderheim „Heiterblick“ von Katharina Vogel etwa strotzen vor Selbstgewißheit, mit der sich die Jugendlichen vor der Apparatur behaupten. Ihr Blick in die Kamera trägt immer auch Züge eines Gegenangriffs. Die Aufnahmen sind aus einer Halbnähe geschossen, in der zwischen Pathos, Mitleid und Schadenfreude kein Unterschied besteht. Bei Barbara Siewer ist dieser Zustand am kompromißlosesten vorangetrieben. Die Serie „Zelle 533“ zeigt ohne Insassen nur die Ordnung der Gegenstände, die fest zur Gefängniseinrichtung gehören. Sie sind verschwommen und unscharf, weil in der Enge der Zelle jeder klar gezeichnete Abstand zu den Dingen verschwindet. Vom Klo bis zur Pritsche sind es nur wenige Zentimeter.

Oranienstraße 25; täglich 12-18.30 Uhr

Harald Fricke