Europa – eine Mode

■ Ein Gespräch mit dem japanischen Schauspieler Yoshi Oida

Bereits 1968 begann Yoshi Oidas Zusammenarbeit mit dem englischen Theatererneuerer Peter Brook. Er gehörte zu den Gründungsmitgliedern des Centre International de Recherches ThéÛtrales (C.I.C.T.) und reiste mit dem Ensemble Anfang der siebziger Jahre durch Afrika und Amerika. 1975 gründete der ausgebildete Tänzer sein eigenes Ensemble, mit dem er eigene Produktionen auf der Basis orientalischer Stoffe erarbeitet. Dieser Tage erscheint im Alexander Verlag Oidas Autobiographie „Zwischen den Welten“. Peter Laudenbach traf den Schauspieler in Berlin, wo er im Rahmen der 43. Berliner Festspiele derzeit mit „L'homme qui“ gastiert (taz vom 15.6.).

taz: Sie begegneten Peter Brook zum ersten Mal 1968 bei seiner „Sturm“-Inszenierung. Das war sein erster Versuch, mit Schauspielern aus verschiedenen Ländern und Kulturen eine Inszenierung zu erarbeiten; und es war der Zeitpunkt, an dem er sich vom konventionellen Theater verabschiedete. Was fasziniert Sie über all die Jahre an Brook?

Yoshi Oida: In diesen fünfundzwanzig Jahren habe ich nicht immer mit Brook gearbeitet. Manchmal arbeitete ich mit ihm, manchmal habe ich selbst Regie geführt. Aber ich bin immer wieder zu ihm zurückgekehrt. Für mich ist Peter Brook der Meister des Theaters. Manchmal komme ich zurück in das Haus des Meisters, um noch etwas zu lernen, und dann gehe ich wieder weg und mache meine eigenen Sachen. Was sich nicht ändert, ist, daß Brook ein Theater für jeden machen will, nicht nur für die Intellektuellen oder für die Unterhaltungsindustrie. Aber er will sich nicht wiederholen, er will immer einen Schritt weiter gehen. Einmal habe ich ihn gefragt, woher er die Kraft nimmt, über eine so lange Zeit Theater zu machen, wie er es schafft, nicht müde zu werden, und er anwortete, daß er neugierig sei. Das ist die Kunst: neugierig zu bleiben. Er ist immer noch jung, wie ein Kind, das nach neuen Erfahrungen sucht.

Diese Suche nach neuen Erfahrungen steht in krassem Gegensatz zum traditionellen japanischen Theater, das Sie in Ihrem Buch als eine „Kunst der Wiederholung“ beschreiben. Ich nehme an, Brooks Improvisationsübungen fielen Ihnen zu Beginn nicht leicht.

Ja. In Japan studierte ich die japanische Tradition, und die Tradition besteht aus Wiederholung. Ich habe versucht, genau das gleiche zu tun wie mein Meister. Man muß versuchen, so gut zu werden wie der Meister, erst dann kann man weitergehen. Mein Leben bestand aus Wiederholung und Imitation. Aber als ich Peter Brook traf, sagte er, daß ich mich nicht wiederholen soll. Wenn ich in einer Probe etwas Bestimmtes gemacht habe und es am nächsten Tag wiederhole, sagt Peter, daß er das schon gesehen hat, und ich muß etwas anderes ausprobieren. Wenn ich beim Noh-Theater meinen Meister nachahme, habe ich ein Ziel, das ich erreichen will – das ist leichter. Der Originaltitel meines Buches lautet „L'acteur flottant“ – ein Schauspieler, der nicht weiß, was er tun muß.

Ich war überrascht, in Ihrem Buch zu lesen, daß ein japanischer Schauspieler innerhalb dieses extrem stark formalisierten Theaters eine große Freiheit besitzt: Er wiederholt zwar genau die vorgegebene Form, ist aber innerhalb dieser Wiederholung frei. Das ist für einen Europäer ein irritierender Gedanke.

Die Leute haben die Illusion, daß man frei sei und Individualität besitze, wenn man nicht einer vorgegebenen Form folgt. Aber man lebt immer in einem Klischee, ohne es zu wissen. Weshalb tragen Sie eine schwarze Jacke? Weshalb sprechen Sie diese Sprache? Weshalb benehmen Sie sich in dieser oder jener Weise? Weshalb trinken Sie Bier? Das sind alles vorgegebene Formen. Aber Sie fühlen sich dabei frei.

Eine europäische Illusion?

In der Tat. Jeder ist ein Gefangener der Form. Als erstes muß man verstehen, daß man ohnehin im Gefängnis ist. Wenn man aus diesem Gefängnis herauskommen will, braucht man eine bessere Form. Man muß immer wieder eine bessere und noch eine bessere Form finden, und am Ende gibt es so etwas wie Freiheit, wirkliche Freiheit. Eine Meditation ist eine Form. Man begibt sich hinein und kann vielleicht das Leben besser verstehen. Die Europäer haben ihre Individualität, aber sie sind Gefangene ihres sozialen Systems, und sie merken es nicht.

In „Zwischen den Welten“ beschreiben Sie, wie Brook nach Formen der Kommunikation ohne Sprache sucht und wie Sie entdecken, daß Menschen aus verschiedenen Kulturen sich auf völlig verschiedene Weise bewegen. Sie zitieren einen Tanzlehrer, der den afrikanischen Tanz gummiartig, den japanischen hölzern und den indischen fließend nennt. Bei den Europäern will er erst gar nicht von Bewegung sprechen.

Wir haben eine Improvisation gemacht: ein Ehepaar. Ich habe den japanischen Ehemann gespielt und eine amerikanische Schauspielerin die Ehefrau. Das ging nicht. Die kulturellen Grenzen sind zu stark. Aber als wir nur noch „Mann und Frau“ improvisierten, konnten wir plötzlich kommunizieren. Diese Begegnung war nicht so stark kulturell codiert. Die erste Sprache, die ein Kind spricht, hat die Laute „ma-ma“. In ihrem Land heißt das „Mutter“. Im Japanischen bedeutet das „Essen“. Für die kleinen Kinder sind vielleicht „Mutter“ und „Essen“ dasselbe. Im Grunde benutzen wir vielleicht die gleiche Sprache. Die Differenzen stammen aus der kulturellen Entwicklung. Ich habe in vielen Ländern Leute gefragt, was sie sich bei dem deutschen Wort „glücklich“ vorstellen, etwas Schlechtes oder etwas Schönes? Überall dachten sie, daß das Wort etwas Schönes bedeutet. Wenn die kulturellen Codes wegfallen, wird eine andere, sozusagen existentielle Verständigung möglich. Das interessiert uns. Wir haben zum Beispiel „Mahabharata“ oft vor Publikum gespielt, das kein Französisch verstand. Aber wenn wir eine starke Beziehung zwischen den Schauspielern entwickeln können, erreichen wir das Publikum trotz der kulturellen und sprachlichen Barrieren; es versteht uns auf eine andere Weise.

Sie schreiben traurig und wütend darüber, daß in Afrika oder Asien europäische Kultur andere kulturelle Traditionen verdrängt. Das ist eine perverse Form, kulturelle Grenzen zu überschreiten: Man zerstört einfach die fremde Kultur.

Ja, aber das ist nur eine Mode. Europa ist erst seit vierhundert Jahren in Mode. Aber die Kulturgeschichte des Menschen ist zweihunderttausend Jahre alt. Europa ist nur eine Mode. Das vergeht.

Yoshi Oida: „Zwischen den Welten“. Mit einem Vorwort von Peter Brook. Aus dem Japanischen von Buki Kim. Alexander Verlag, Berlin 1993, 251 S., 29.80 DM

„L'homme qui“: Heute, am 5., und 7. bis 9. September im Berliner Ensemble. Im Anschluß an die heutige Vorstellung wird Yoshi Oida im Berliner Ensemble sein Buch vorstellen. Beginn: 22 Uhr