Lauert am Küchentisch

■ Film über Angst: „Kinderspiele“ von Wolfgang Becker

In der Küchentür fehlt eine Ecke vom Sichtglas. Wenn Micha sich reckt, kann er durchgucken. Hinter der Tür, das ist die Wirklichkeit. Ein kleines Stück davon, dreieckig, mit gesplittertem Rand.

In der Badewanne piekst Micha mit dem Finger in die Seifenblasen, daß sie platzen. Er stellt sich vor: Jede dieser Seifenblasen ist ein Planet wie die Erde, mit Millionen von winzigen Lebewesen. Dagegen ist Micha ein Riese. Wenn Micha es nicht mehr aushält, schlägt er im Kohlenkeller Nägel in den Pfosten. Er nagelt sich seine Wut weg. Oder er träumt vom Seifenblasen-Universum. Das ist auch eine Wirklichkeit, aber nicht die von Zuhause.

Zuhause, das sind Papa, Mama, die Oma, und Peter, der kleine Bruder. Der Papa will ein Rollo am Küchenfenster anbringen, aber es schnellt immer zurück. Die Mama mag Peter lieber als Micha, dabei petzt der und krakeelt. Die Oma ist dick und kann nicht scheißen. Wenn Micha sein Pausenbrot nicht gegessen hat, sitzt sie mit heruntergelassenen Baumwollunterhosen auf dem Klo, mampft das Brot und spielt Karten mit Peter auf dem Badewannenrand.

Ab heute sind große Ferien. Micha hat ein gutes Zeugnis, damit kann er aufs Gymnasium. Aber erstmal muß er die Kohlen stapeln, „picobello“, wie der Vater sagt. Sein Freund Kalli ist sitzengeblieben. Dabei kennt Kalli sich aus. Er hat ein Springmesser, eine große Schwester, die schon BH trägt, und zeigt Micha die Frau aus dem Pornomagazin. Kalli kann mit Spucke Blasen machen. Er kann sogar Twist tanzen, mit der Mutter in der Küche. Und eine Mark für Pommes hat er auch immer. Kalli hat's gut.

Der Vater prügelt Micha, die Mutter nimmt den kleinen Bruder in den Arm und schaut zu. Später wird sie den Vater verlassen und den Bruder mitnehmen, sie wird einen Freund haben, mit dem sie nackt auf dem Feldbett im Gartenhaus liegt und Micha wegschicken mit wütenden Briefen an den Vater, bis Micha die Briefe selber schreibt, damit Mama zurückkommt. Aber dieses Spiel wird tödlich enden.

„Kinderspiele“ erzählt eine Kindheit in der Bundesrepublik, in den sechziger Jahren. Das Ambiente stimmt: die billigen Möbel, der Trevira-Anzug, die Kittelschürzen, die bunten Würfelmuster auf den Milchgläsern. Die Nachbarin läßt sich von der Mutter die Hühneraugen wegmachen, der Anbau mit den Glasbausteinen wird nie fertig, im Fernsehen läuft „Aktenzeichen XY“. Aber das ist unwichtig. Authentisch ist an Wolfgang Beckers Erinnerungsbildern vor allem die Angst und die Ohnmacht. Das, was man Gewalt in der Familie nennt, lauert am Küchentisch und kann jederzeit ausbrechen. Die Mutter ist hilflos, der Vater mickrig und jähzornig, die Kinder sind wehrlos. Michas Gesicht (der Laiendarsteller Jonas Kipp) wirkt seltsam leer. Da war einmal was, und jetzt ist es ausgelöscht. „Kinderspiele“ dramatisiert nicht, sondern registriert, nüchtern bis ins Detail. Als die Oma stirbt, wird sie aus dem Haus getragen, der Kopf schlägt auf das Treppengeländer. Im Krankenhaus liegt sie mit Wattepfröpfen in den Nasenlöchern und röchelt.

Manchmal muß man auch lachen. Über Kallis Oma zum Beispiel, die wirr im Kopf ist. Oder über die Nummer mit der Fernsehantenne, die die Mutter in die Luft hält, während der Vater Anweisungen erteilt.

Mit der Taschenlampe strahlt Micha die Sterne an und schickt leise einen Funkspruch los: „Hallo, hier ist Micha. Hört mich jemand? Hier ist es schön. Ich hab gerad Ferien. Meine Mutter ist weg.“ Für Wolfgang Becker ist Kindheit etwas, das man überleben muß. Sogar die großen Ferien. Christiane Peitz

„Kinderspiele“. Regie: Wolfgang Becker, Buch: Wolfgang Becker und Horst J. Sczerba, Kamera: Martin Kukula, mit Jonas Kipp, Oliver Bröcker, Burghart Klausner, Angelika Bartsch. Deutschland 1992, 107 Min.