Gaza, Träume und Alpträume

Bringt der israelische Rückzug Frieden und Wohlstand – oder den innerpalästinensischen Bruderkrieg? / „Wenn wir erst mal einen Flughafen haben...“  ■ Aus Gaza Ivesa Lübben

„Was willst du machen? Du bist in einer Zelle gefangen. Es gibt nur ein winziges Fenster, durch das Licht kommt. Natürlich versuchst du, aus diesem Fenster zu entkommen, wenn dir die Tür versperrt ist.“ So kommentiert Walid das „Jericho-Gaza-Abkommen“ zwischen der PLO und der israelischen Regierung. Der 30jährige Fahrer lebt im Schati-Camp, einem der acht Flüchtlingslager des Gazastreifens. Direkt gegenüber von seinem Haus ist der zentrale Markt. Doch die meisten der Blechverschläge bleiben geschlossen. Nur ein paar Bauern verkaufen Zwiebeln, Tomaten und Knoblauch von kleinen Eselskarren. Seit die Besatzungsbehörden am 29. März den Gazastreifen von der Außenwelt abriegelten, haben die meisten der Bewohner Schatis ihre Arbeit in Israel verloren. Sie hängen von den Lebensmittelhilfen der UNRWA, dem UN-Flüchtlingswerk für palästinensische Flüchtlinge, ab.

Walid ist erleichtert bei dem Gedanken, daß der Alptraum namens Besatzung nun wohl bald vorbei sein wird. „Es gibt kaum ein Haus in Schati, in dem nicht jemand während der Intifada getötet wurde, im Gefängnis war oder dauerhafte Schäden durch Schußverletzung, durch Folter oder die Praktik des Knochenbrechens davongetragen hat“, sagt er, während draußen irgendwo ein Schuß fällt. „Jaisch, Jaisch – Soldaten, Soldaten“, radebrecht sein zweijähriger Sohn, der unter dem Guavebaum spielt. In den drei Zimmern um den kleinen Innenhof leben Walid, seine Frau und drei Kinder, die Familie seines Bruders und seine Eltern. „,Soldaten‘, das ist neben ,Papa‘ und ,Mama‘ das erste Wort, das die Kinder hier lernen“, erzählt Walid, „mein ältester ist ein Jahr älter. Er spielt von morgens bis abends ,Jaisch‘. Die Kinder sind alle psychisch krank. Wenn es so weiter geht, wird diese Situation für sie zur Normalität.“

Aus Walids Stimme spricht auch Verbitterung. „Es waren die Söhne der Flüchtlingslager, die die Intifada gemacht haben. Während sie im Gefängnis saßen, schickten die Reichen ihre Kinder ins Internat ins Ausland oder bezahlten einen Privatlehrer. Heute kehren die zurück und hoffen auf einen Posten in der palästinensischen Verwaltung. Wir Flüchtlinge sind die großen Verlierer der Intifada. Wir brauchen endlich wieder Ruhe, um – wenn schon nicht an uns selber – wenigstens an die Zukunft unserer Kinder zu denken. Was besitzen wir Flüchtlinge denn anderes als unsere Bildung? Wenn wir die verspielen, bleibt uns nichts.“

Aber Walid hat Angst, daß der Frieden da stehenbleibt, wo er gerade anfängt. Und was soll aus den Flüchtlingen werden? Walids Eltern sind 1948 aus der Gegend um das heutige Aschdod in Israel nach Gaza geflohen. „Dort ist mein Land“, insistiert sein alter Vater. „Ich habe die Urkunden aufbewahrt.“ Er klettert auf einen Stuhl, um eine verstaubte Plastiktüte aus dem Hohlraum unter dem Dach hervorzuziehen. „Einmal fanden israelische Soldaten die Besitzurkunden bei einer Hausdurchsuchung und zerrissen sie vor meinen Augen. Sie wollen jede Erinnerung an unsere Heimat vernichten. Das hier sind die letzten Papiere, die ich retten konnte. Ich habe sie gut versteckt.“

Die meisten Leute in Schati sind weder für noch gegen die „Jericho- Gaza-Option“. Sie fühlen sich wie jemand, der aus einem Alptraum erwacht und vergessen hat, wo er ist. „Ich habe einen Sohn bei Fatah, einen bei Hamas und einen bei der Volksfront. Jedesmal, wenn es bei uns an der Tür klopft, denke ich, jetzt holen sie wieder einen ab. Einer ist immer noch im Gefängnis, in der Negev-Wüste“, sagt eine Frau im typischen schwarzen Rock und dem um Kopf und Hüfte gewickelten Baumwolltuch. „Kannst du dir vorstellen, wie einer Mutter zumute ist, wenn sie ständig von Verhörzentrum zu Verhörzentrum läuft, weil mal wieder einer ihrer Söhne verhaftet wurde? Und dann kommst du nach Ansar und siehst durch den Stacheldraht hindurch, wie er gefesselt und mit verbundenen Augen, das Gesicht im Sand, auf dem Boden liegt und ein Soldat mit dem Gewehrkolben auf ihn einschlägt. Ich habe weiße Haare davon gekriegt. Ich will endlich eine palästinensische Regierung oder internationale Polizei. Ich will, daß ihn jemand da rausholt, ganz egal, ob die anderen ihn Verräter nennen oder nicht.“

„Ein guter Anfang, wenn es denn wirklich zu einem palästinensischen Staat führt“, sagt ein junger Mann, der vor einem Frisörladen mit seinen Freunden Tee trinkt. Alle sind arbeitslos. Als ehemalige politische Gefangene der radikalen Volksfront dürfen sie den Gazastreifen nicht verlassen. Daß die Führung ihrer Organisation das palästinensisch-israelische Abkommen verurteilt, scheint bei ihnen auf taube Ohren gestoßen zu sein. „Wir wollen endlich einmal raus hier und etwas von der Welt sehen. Viele Jungs hier wollen ins Ausland, um zu studieren, und dürfen nicht.“

„Natürlich sind wir politisch gegen das Abkommen“, widerspricht ein anderer. Vor allem macht ihm die Perspektive einer israelisch-palästinensischen Sicherheitskooperation Angst. Gegen wen richtet sich das? Gegen die palästinensische Opposition? Und was wird aus den israelischen Siedlern, die über die Hälfte des Bodens im Gazastreifen beschlagnahmt haben? „Jahrelang haben wir über den bewaffneten Kampf gegen Israel geredet. Aber wir haben uns eine ganze Menge vorgemacht. Wenn es keinen innerpalästinensischen Bürgerkrieg gibt und die Dollars fließen, ist es dann in Ordnung?“

Die Angst vor palästinensisch- palästinensischen Zustammenstößen, vor allem zwischen Arafats Fatah und der islamistischen Hamas, ist fast so groß wie die Angst vor der israelischen Armee. Immer wieder kam es in den letzten Monaten zu bewaffneten Fehden zwischen den bewaffneten Untergrundzellen der konkurrierenden Organisationen. Nicht immer ging es dabei um Politik, machmal nur um Einflußzonen oder persönliche Streitereien. Wie ernst sind die Erklärungen der Hamas-Führung zu nehmen, daß sie trotz ihrer vehementen Opposition gegen das „Jericho-Gaza-Abkommen“ keine Waffe gegen Palästinenser erheben wird? Und was passiert, wenn Hamas-Aktivisten, wie manche von ihnen angedeutet haben, jüdische Siedler angreifen, deren Sicherheit die PLO-Führung in dem Abkommen mit Israel ja gerade garantiert hat? Werden dann die 20.000 bis 30.000 Ex-Fedayin, die Arafat als Sicherheitskräfte in die besetzten Gebiete mitbringen will, jüdische Siedler gegen Palästinenser verteidigen?

Vor zehn Tagen rief Hamas zum Generalstreik gegen das „Jericho- Gaza-Abkommen“ auf. Im ganzen Gazastreifen blieben die Läden geschlossen. Kein Auto war auf der Straße zu sehen. Heute herrscht buntes Treiben im Schari Al- Wahda, der Straße der Einheit, einer der Hauptgeschäftsstraßen in Gaza-City. Am Straßenrand verkaufen fliegende Händler von kleinen Wägelchen frischgepreßten Orangensaft, Popcorn und frittierte Felafel. Und in den Seitenstraßen bieten Bauern auf hölzernen Marktständen Mangos und Guaven, Zitrusfrüchte, riesig rote Äpfel und alle möglichen Gemüsesorten feil.

„Hier auf dem Markt gucken alle nach vorn. Wir hoffen, daß wir bald unsere Waren aus Ägypten, Jordanien und meinetwegen auch aus Israel frei importieren können – aber zu gleichen Bedingungen“, sagt der Besitzer eines Elektroladens. Vielleicht könnte man manche Geräte auch hier montieren, überlegt er. „So lange Abu Ammar (Jasser Arafat) optimistisch ist, bin auch ich optimistisch“, meint der Süßigkeitenhändler um die Ecke. „Du wirst sehen: Morgen gibt es einen Wirtschaftsaufschwung, und dann werden die Leute wieder mehr kaufen.“

Von einem Hongkong des Nahen Ostens träumt Mohammed Salim Al-Qadwah, der Vorsitzende der Handelskammer von Gaza, die sich in einer weißen Villa im Reichenviertel Rimal befindet. Schlimmer als jetzt kann es nicht werden. Nach seiner Schätzung beträgt die Arbeitslosigkeit fast 70 Prozent. Der Export von Obst und Gemüse ist völlig zum Erliegen gekommen. „Wir brauchen vier bis fünf Milliarden Dollar für den Aufbau einer eigenen Infrastruktur. Wir sind optimistisch, zumal die EG, Japan und die skandinavischen Länder Wirtschaftshilfe zugesagt haben. Auch warten viele Palästinenser darauf, ihr Kapital hier investieren zu können. Wenn wir erst einmal den Hafen ausgebaut und einen Flughafen im Süden des Gazastreifens haben, werden wir die ideale Brücke zwischen Europa und dem arabischen Hinterland, zwischen Asien und Afrika sein. Und man darf nicht vergessen: Wir haben eine äußerst qualifizierte Arbeiterschaft. Ihre Arbeitserfahrungen in Israel haben sicherlich eine Menge dazu beigetragen.“

Aber die Hoffnung im Gazastreifen muß viele Wunden pflegen. Eine dieser Wunden heißt Ghazi Bedawi Hatab. Er kommt aus Bureij, einem kleinen Flüchtlingslager inmitten von Oliven- und Orangenhainen südlich von Gaza-City. Ghazi ist einer von drei jungen Palästinensern aus dem Gazastreifen, die diese Woche unter den Kugeln israelischer Soldaten starben. „Ghazi war die Hoffnung für die ganze Familie. Er hatte keinen Vater mehr. Er ging zur Schule und verdiente nebenbei das Geld für seine sechs kleineren Geschwister. Er sorgte dafür, daß sie zur Schule gingen. Er wollte nicht, daß sie Analphabeten bleiben wie seine beiden älteren Brüder“, erzählt sein Arbeitgeber Mohammed Al-Galani.

Ghazi arbeitete auf dem Bau, obwohl er wegen einer Schußverletzung das linke Bein nicht bewegen konnte. Aber er war zu stolz, um Almosen zu nehmen. „Wir waren auf dem Bau und wollten frühstücken. Ghazi ging los, um für uns alle ,Ful‘, ,Pferdebohnen‘ zu holen. Plötzlich kam ein Soldat aus einer Nebengasse und sah Ghazi auf sich zukommen. Es hatte kurz vorher irgendwo im Lager eine Steineschlacht zwischen Jugendlichen und Soldaten gegeben. Der Soldat zückte das Gewehr und schoß. Ein Dumdum-Geschoß zerriß Ghazi die Brust.“

Trotz der Friedensverhandlungen hat sich die Menschenrechtssituation eher noch verschlechtert, meint Raja Saurani, Leiter des Menschenrechtszentrums in Gaza- City: „Im letzten Jahr gab es mehr Tote und Verletzte als in den Jahren der Likud-Regierung. Die Verhältnisse in den Gefängnissen sind schlimmer als je zuvor. Gaza ist zu einem großen Massengefängnis geworden. Und unter dem Vorwand, Flüchtlige zu suchen, werden immer wieder ganze Regionen tagelang abgesperrt und die Häuser der Verdächtigen mit Raketen beschossen.“

Es ist Abend im Schati-Camp. Die letzten Strahlen der Abenddämmerung verglühen im Mittelmeer, das hinter den armseligen mit Wellblech gedeckten Hütten noch flüchtig zu sehen ist. Schüsse sind von der hinteren Ecke des Marktes zu hören. Diesmal keine Soldaten, sondern Mitglieder der „Falken Fatahs“, der bewaffneten Zellen von Fatah, die sich im Schutze der aufziehenden Dunkelheit aus ihren Verstecken hervortrauen. Sie rufen auf zu einer Demonstration zur Unterstützung der PLO-Führung. Aber es kommen nicht wie früher Tausende, sondern nur ein paar Dutzende. Ein paar hundert Meter weiter ruft die „Rote Armee“ der Volksfront zu einer Gegendemonstration. Aber auch sie ohne Erfolg. Die meisten bleiben zu Hause, zwischen Zweifel und Hoffnung und der Angst, daß diese Hoffnung, wie schon so viele, wieder betrogen wird.