Pilsudski ist immer noch ein Held

Das Verhältnis der Polen zu ihrer Geschichte ist ungebrochen. Doch das nationale Pathos hält sich in Grenzen. Teil drei der taz-Serie zur Bedeutung der Geschichte in Osteuropa  ■ Aus Warschau Klaus Bachmann

Die Eröffnung des ersten polnischen Katyn-Museums in Warschau war für viele große Tageszeitungen nur ein Ereignis für die hinteren Seiten oder den Lokalteil. Die Zeiten scheinen vorbei, als man mit dem Mord an Tausenden polnischen Offizieren, die vom sowjetischen Geheimdienst auf Befehl des Politbüros (und nicht von der deutschen Wehrmacht) ermordet worden waren, noch die Massen zu antikommunistischen Demonstrationen auf die Straßen treiben konnte.

Das Katyn-Museum wurde auch nicht vom Staat, sondern von einer privaten Stiftung der Nachkommen der Opfer gegründet. Nationale und nationalistische Organisationen standen Pate, lediglich Zeitungen vom rechten Rand des politischen Spektrums berichteten ausführlich. Nach der Aufhebung der Zensur vor vier Jahren mußten sich weder Polens Öffentlichkeit noch die Intellektuellen national abreagieren. Sie hatten schon vorher intellektuell mit dem Realsozialismus abgerechnet: In privaten Diskussionszirkeln, in der Untergrundpresse, in Exilzeitschriften wie der berühmten Pariser Kultura und zum Teil sogar ganz offen und wissenschaftlich.

Außer in den finsteren Jahren des Stalinismus ist es der parteiamtlichen Zensur in Polen nie wirklich gelungen, Polens Historikern einen Maulkorb umzuhängen. Seit den siebziger Jahren existierten in Polen auf historische Themen spezialisierte Untergrundzeitschriften, die zum Teil bis heute weiterbestehen. Dort wurde bereits über die deutsche Einheit debattiert, als man sie in Deutschland selbst noch für eine reine Utopie hielt.

Aber auch legalen Fachblättern gelang es, unliebsame Inhalte an der Zensur vorbeizuschmuggeln, besonders wenn es sich um auflagenschwache, kleine, nur dem Fachpublikum zugängliche Zeitschriften handelte, von denen es in Polen eine Unmenge gibt. Jede größere Stadt hat mindestens eine eigene historische Zeitschrift, viele davon erscheinen monatlich oder vierteljährlich. Als die Zensur abgeschafft wurde, folgte so nicht – wie in Litauen oder der Ukraine – eine Explosion nationalen Pathos.

Die Intellektuellen wandten sich lieber jenen wenigen Themen zu, die wirklich tabu gewesen waren. Dazu gehört der Warschauer Aufstand 1944, den Polens Kommunisten schon immer für ein nutzloses, antisowjetisches Abenteuer hielten. Auch einige nichtkommunistische Diskutanten vertreten inzwischen die These, die Rote Armee habe den Aufständischen wirklich nicht helfen können. Bislang war Stalin vorgeworfen worden, er habe nichts tun wollen. Befreiend wirkte sich das Ende der Zensur auch auf den deutsch-polnischen Dialog aus. Mit Eifer gehen polnische Historiker seither daran, die Vertreibung und Umsiedlung der deutschen Bevölkerung nach dem Krieg aufzuarbeiten. Heftig gestritten wird seither in Polen auch über die litauisch-polnische und ukrainisch-polnische Geschichte. Besonders letztere hatte die Zensur auf die offizielle Freundschaft zwischen den Herrschenden zu reduzieren versucht.

In Polen dominiert nach wie vor das Bild vom kinderschändenden, brandschatzenden und mordenden ukrainischen Banditen besonders auf der äußersten Rechten und Linken. Polens Vertriebenenverbände, Teile der exkommunistischen Sozialdemokraten und der nationalen Rechten teilen sich sowohl ihre Minderheitenpsychosen als auch ihre Komplexe gegenüber nahezu allen Nachbarn Polens, nur die liberale Öffentlichkeit hat sich darüber längst hinweggesetzt.

Das bedeutet nicht, daß sich damit auch etwas im Bewußtsein des Durchschnittsbürgers verändert hätte. Da funktionieren die alten Mythen weiter, und mancherorts werden fröhlich Denkmäler für Ereignisse und Personen errichtet, die im Volk als Idole und höchst patriotisch gelten, unter Historikern allerdings zutiefst umstritten sind. Nur so ist es möglich, daß Staatspräsident Lech Walesa öffentlich behaupten kann, er eifere Pilsudski, dem ersten Marschall Polens, nach, ja, wolle ihn „verbessern“.

Pilsudski ist eine zwiespältige Figur: ein Sozialist, der, als er an der Macht war, die politische Richtung wechselte; ein Machtmensch, der 1918 als Übergangsdiktator die Macht an den Sejm abgab, um sie acht Jahre später mit einem Putsch wieder an sich zu reißen; einer, der Polen einte, aber die Opposition (darunter seine früheren Genossen) einsperren und foltern ließ. Trotzdem gehört er zum nationalen Erbe wie der Nationaldichter Adam Mickiewicz oder Kasimir der Große, der im Mittelalter Polens Länder einte.

Vor dem Zweiten Weltkrieg hatte Pilsudski einen Gegenspieler, der bis heute Symbolfigur der polnischen Rechten ist: Roman Dmowski, Kopf der Nationaldemokraten, Verfechter einer prorussischen, antideutschen Außenpolitik und einer auf Assimilierung der Minderheiten und Errichtung eines zentralistischen Nationalstaats gerichteten Innenpolitik. Dmowski plagte zeitlebens ein krankhafter Verfolgungswahn vor Freimaurern und jüdischen Verschwörungen. Anhänger seiner Partei überfielen jüdische Studenten und forderten einen Numerus nullus für Juden und deren Deportation nach Madagaskar. Dmowski setzte nach dem Ersten Weltkrieg Polens Westausdehnung bis Schlesien und Pommern durch, und er war es, der behauptete, ein Pole könne nur Pole sein, wenn er auch Katholik ist. Als Sozialistenfresser war Dmowski für Polens Kommunisten zwar eine Unperson, seine Denkart dagegen übernahm man gern, egal ob es um die Begründung des antideutschen Konsenses, die Polonisierung der Westgebiete oder den Kampf gegen unliebsame Minderheiten ging.

Seit der Wende feiert der Dmowski-Kult Urstände: Der christnationale Sejmmarschall Chrzanowski nahm teil an einer Feier für die „Nationalen Streitkräfte“, denen Kollaboration und Massaker an Juden vorgeworfen werden; Primas Glemp selbst schreibt Vorworte zu Dmowski- Neuauflagen; rechte Postillen der Nationalisten und liberalen Konservativen versuchen, aus Dmowskis Schriften etwas Neues für die Tagespolitik herauszupressen.

Während Dmowski und Pilsudski politisch von der Rechten vereinnahmt werden, sehen sich Polens Liberale und Linke vor einem historischen Vakuum. Man wird in ihren programmatischen Texten vergeblich Bezüge zur Geschichte suchen. Leichter haben es da noch die Agrarparteien, die können auf die starke Bauernbewegung vor 1939 zurückgreifen. Die nichtkommunistische Linke der Vorkriegssozialisten dagegen ist bereits von der aus der PVAP hervorgegangenen Sozialdemokratie beschlagnahmt worden: Sie ließ ihre Kandidaten im letzten Wahlkampf zum Kommentar eines Historikers vor Denkmälern verdienter PPS-Politiker posieren. Pilsudski und in geringerem Umfang Dmowski auf jeden Fall haben ihren Platz im nationalen Pantheon erobert, obwohl sie für den ideologischen Überbau einer pluralistischen Demokratie wenig hergeben.

Sozialdemokraten und Demokraten, die zugleich Antikommunisten als auch von Pilsudskis Regime Verfolgte waren, interessieren allenfalls noch die Historiker. Für sie werden keine Denkmäler errichtet – unter anderem deshalb, weil sie oft, wie etwa Polens Sejmmarschall der Vorkriegszeit und einer der führenden Köpfe der österreichischen Sozialisten, Ignacy Daszynski, bereits von den Kommunisten vereinnahmt wurden. Zu Unrecht übrigens.