Der Goldene Löwe, unter kulturpolitischen Prämissen halbherzig geteilt: Robert Altmans „Short Cuts“ und Krzysztof Kieslowskis „Trois Couleurs. Bleu“ waren die Gewinner in Venedig. Und fast jeden Tag neue Proklamationen: Der Konflikt von Kunst und Kommerz verschärft sich. Von Mariam Niroumand

Armes zerfallenes Europa!

Vielleicht wäre die Biennale dieses Jahr besser ein Radiofestival geworden; ausgerechnet zu ihrem 50. Geburtstag präsentierte sich die Mostra di Venezia als Verlautbarungsorgan mit wenig echtem Lichtspiel. Unter Gillo Pontecorvo, dem kommissarischen Leiter, hatte die Biennale versucht, dem Zuschauerschwund mit amerikanischen Großproduktionen Einhalt zu gebieten. Ob die Rechnung aufgeht, ist fraglich: Der Grund dafür, daß Leute wie Woody Allen oder Robert Altman ihre Filmstarts nach Venedig ausrichten, ist ja gerade das „Kunstprestige“, das dieses Festival immer hatte.

Stars waren aufgefahren worden wie Zirkuselefanten, Spielbergs Dinos marschierten sogar zur Abschlußgala noch einmal auf, und fast jeden Morgen fand sich eine neue Proklamation in Sachen Autorenrechte und Artenschutz im Pressefach.

Nicht, daß es dazu keinen Anlaß gäbe. Filmemacher sehen ihre Werke zerschnitten, gekürzt, von Werbung unterlegt, ihre Filme werden gegen ihren Willen koloriert oder schlicht ausgestrahlt, ohne daß ihnen die royalties, die Tantiemen, gezahlt würden, von denen meist nur die Produzenten etwas haben. Da war plötzlich wieder viel von der „politique des auteurs“ die Rede, diesmal allerdings zu verstehen als moralischer Anspruch der Autoren auf ihre Werke, abgefaßt in Proklamationen, von denen man sich mitunter ins 19. Jahrhundert zurückgebeamt fühlte. Als handelte es sich nicht um eine der populärsten Kunstformen der Gegenwart.

Der europäische Film, der im Zuge der EG-Bildung vom Kultur- zum Wirtschaftsgut umgetauft werden soll, müßte nach dem Willen der Anwesenden (illustre Versammlung: Ex-Kultusminister Jack Lang, Fred Zinnemann, die Tavianis, Sidney Pollack oder Francesco Rosi) aus den Gatt- Freihandelsvereinbarungen herausgenommen und von den einzelnen Staaten als Teil ihrer Identität geschützt werden – wenn nötig, mit Hilfe privater Sponsoren.

Wieder und wieder wurde die kecke Unverschämtheit zitiert, mit der Carla Hills, die amerikanische Gatt-Unterhändlerin, kürzlich sagte: „Ihr Franzosen könnt phantastischen Käse machen. Er ist viel besser als unserer und verkauft sich überall in der Welt. Wir können dafür eben Filme machen, die von aller Welt gesehen werden, eure verkaufen sich halt nicht!“ Kunststück, wenn europäische Produktionen nur in zwei Prozent der amerikanischen Spielstätten zu sehen sind, weil angeblich das US- Publikum keine synchronisierten Filme verträgt.

Daniel Toscan du Plantier, Präsident von Unifrance Films, hält allerdings die Beschränkung auf Protektionismus allein für nicht ausreichend. „Man muß in zwei Richtungen operieren“, forderte er. „Wir sollten in Florida einen Testlauf mit fünfzehn Filmen in Originalfassung zeigen und fünf oder sechs synchronisierte Filme mit vielen Kopien in Kalifornien starten. Wir müssen eben auf den amerikanischen Markt, statt uns immer nur gegen ihre 80 Prozent auf unseren Märkten zu wehren.“

So nimmt es nicht wunder, daß die diesjährige Preisvergabe als politisches Signal gewertet wird. Zum dritten Mal in Folge eine ex aequo- Preisvergabe an Robert Altman für „Short Cuts“ und Krzysztof Kieslowski für „Trois Couleurs. Bleu“. Schon bei der letzten Berlinale konnte man sich nicht für einen Film entscheiden, ebensowenig wie in Cannes: Der Konflikt zwischen Kunst und Kommerz wird immer deutlicher. In beiden Fällen, bei Altman wie bei Kieslowski, handelt es sich um explizite Autorenfilme (im Gegensatz zum Genrekino wie bei De Niros Regiedebüt „A Bronx Tale“ oder zum High-Tech-Kino Spielbergs). Während aber Altmans Film strikt entlang einer Kunstform entwickelt ist, den unterkühlt-apokalyptischen Suburbia-Kurzgeschichten Robert Carvers, bleibt Kieslowski im Kunstgewerbe stecken. Die Bilder und vor allem die Töne, mit der er sein Binoche-Vehikel über eine Komponistin ausstattet, die nach dem Tod ihres Mannes lebendig zu sterben versucht, zielen auf Überwältigung ab, wie dicke Weihrauchschwaden.

So katholisch ging es bisher im Film selten zu; da erschallen strafende Chöre, da kasteien sich reiche Bohemiens, um Straßenmusiker zu werden, da geht Maria durch den Dornenwald. „Trois Couleurs. Bleu.“ ist der erste Teil einer Trilogie, in der die einzelnen Farben der Tricolore behandelt werden sollen: typisch für einen vom Realsozialismus Geschädigten glaubt Kieslowski ernsthaft, die Freiheit von der Brüderlichkeit und vor allem der Gleichheit trennen zu müssen. Armes Europa.

Godard hingegen, der die Frage in „Hélas pour moi“ sehr viel direkter anging und einen Gott, ein armes Gespenst (Gerard De-par- Dieu), zeigt, der Mensch zu werden versucht, aber nicht durch die Kakophonie dringt, ging leer aus. Diesen Film zu prämieren wäre eine Entscheidung gewesen: den Goldenen Löwen an ein Kino mit Bild und Ton, inkongruent und zerfallen wie das Europa, das eben nicht mehr weiß, was es im Innersten noch zusammenhält. („Dans Yougoslavie“, heißt es in dem Film irgendwann, „il y a You, Gosse et la Vie.“) Statt dessen geht ein bißchen Glorie nach Amerika und ein bißchen Ehre an ein Europa vor der Aufklärung. Wen wundert es unter solchen Umständen, daß Juliette Binoches madonnenhafte Julie den Preis für die beste Hauptdarstellerin in Kieslowskis Film bekam?

Der Silberne Löwe ging an „Kosh Ba Kosh“ von Bakhtiar Khudojnazarov, ein Film aus Tadschikistan, der versucht, den Bürgerkrieg, das glücksspielende Patriarchat und eine hübsche Liebesgeschichte in einer Seilbahn zu transportieren, die ständig auf und ab gondelt. Mut hat die Jury bewiesen, als sie „Bad Boy Bubby“, ein Film des nahezu unbekannten australischen Regisseurs Rolf de Heer, mit dem Spezialpreis auszeichnete. Er beschreibt die Odyssee des 19jährigen Bubby, der zeitlebens von seiner mägärenhaften Mutter in einer Art Bunker festgehalten wird, bis er sie und Paps in Zellophan einwickelt und ins Freie zieht. Ausgestattet wie ein moderner Kaspar Hauser, zieht Bubby nun in das Waste Land, das draußen vor der Tür wartet. Mit den wenigen Versatzstücken von Geste und Sprache müssen er und die anderen nun auskommen.

Auch wenn der Film mitunter in Punk-inspirierter Sozialromantik versinkt: er stellt die Frage, wer mit welcher Software noch für das große Betriebssystem kompatibel ist, und er beantwortet sie ehrlicher als jeder „Rain Man“ vor ihm.