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Um jeden Preis mitteilen

■ Wüstes Konvolut, als Kunstpaket präsentiert: Nobuyoshi Arakis "Akt Tokio"

Seit über zwanzig Jahren streift Araki mit der Kamera durch seine Heimatstadt Tokio. Er fotografiert sie von innen und außen, den Glimmer der Zentren und das Chaos seiner Peripherien, er zeigt uns eine überraschend verspielte Öffentlichkeit wie eine im öffentlichen Licht erstarrte Privatheit. Kaum Männer, aber immer wieder Frauen: als Jugendliche, Prostituierte und Gattin. Als Lustobjekt, natürlich, als Fetisch und Fleisch. Ein Rotz auf alle Emanzipation.

Dabei scheint Tradition, unserem Japan-Klischee entgegen, keine Rolle zu spielen. Glauben wir Arakis Bildern, ist Tokio heute ein Ort geschichtslos verkommener Modernität, ein Hier und Jetzt ohne Erinnerung und Utopie, eine Gesellschaft von Einsamen, Ernüchterten, Abgeklärten.

Komm, laß uns ein perverses Spielchen treiben. Du ziehst dich aus, und ich fessele dich. Nein, du wirst dich nicht selbst befreien können. Das sähe man doch, wäre ein zu geringer Kick. Du bist auf mich angewiesen, auf mich allein, und ich habe alles in der Hand. Das ist das Spiel. Jetzt schau her, wie das Kaninchen zur Schlange, zeig mir deine Angst, deinen Trotz, deine Geilheit, perfekt. Jetzt können wir uns alles vorstellen. Ich brenne – und mache ein Foto. Und die Fotografie fesselt dich in Ewigkeit... Na, komm schon: doch nur zum Spiel, nur zum Spaß!

Es ist diese Ambivalenz aus realem Begehren und gespielter Erotik, die in Arakis besten Bildern steckt. Sie korrespondiert mit der formalen Spannweite zwischen Gefundenem und Inszeniertem, Gesuchtem, Erdachtem und Erlebtem, zwischen Symbolischem und Ikonischem, zwischen Kitsch und Kunst seiner Arbeiten. Formale Strenge, stilistische Einheitlichkeit sind Arakis Sache nicht. Das kann wohl auch nicht anders sein, wenn man wie Araki achtzig Bücher in den letzten zwanzig Jahren gemacht hat. Ein Faßbinder, kein Kubrick der Fotografie. Es ist auch keine sonderliche Originalität, von der die rund hundert Bilder zeugen, die derzeit als Ausstellung und Katalogbuch durch Mitteleuropa kreisen. Wie Sadomaso- Spiele sich fotografisch verewigen lassen, ist fotohistorisch sattsam erprobt. Daß tote Tiere für Morbidität einstehen und diverse Blüten an weibliche Geschlechtsteile erinnern, wußten wir auch schon vorher. Aber können wir darin heute noch eine formale oder ikonographische Originalität sehen?

Was ergreift, ist die krude Direktheit, mit der Araki seine Obsessionen in Bilder formt, die Schamlosigkeit, mit der er uns in sein Privatleben hineinzieht, die Insistenz seiner Arbeit, die uns von Bild zu Bild in Tokios Bauch umherstößt. Tokio, das bin ich, möchte Araki sagen. Anmaßung war ja noch nie eine Behinderung des Ausdrucks.

Eine männliche Hand, vermutlich Arakis, hält eine weibliche, wohl die seiner Frau Yoko, die sich ihm zaghaft aus der Decke eines Krankenhausbettes entgegenstreckt. Das automatisch eingeblendete Datum zeigt 26.1.90. Kein Bild vom 27. Januar. An diesem Tag, erfahren wir im Anhang des Buches, starb im Alter von 42 Jahren Arakis Frau an Gebärmutterkrebs. Am 28. Januar fotografiert Araki einen verdreckten Schneehaufen am Straßenrand, dessen Form verblüffend an eine zugedeckte Leiche erinnert. Zwei Bilder vom 29.1.: a) Yoko und Arakis jüngst erschienenes Buch über Chiro, eine den Arakis zugelaufene Katze, mit Yoko im Sarg, unter Blumen und sechs Händen Trauernder. Ein befremdlich anmutendes Betatschen der Leiche, Yoko aber scheint erhaben zu lächen. b) Araki mit Sonnenbrille und einer großen Tüte, deren Bedeutung ich nicht kenne, läßt sich inmitten der Trauergemeinde fotografieren. Einer trägt ein großes Portrait der Verstorbenen. 30. Januar, das standardisiert eingeblendete Datum läßt über die zeitliche Nähe keinen Zweifel aufkommen, Araki zeigt uns die weit gespreizten Schenkel einer auf dem Bett liegenden Frau, die sich zwei Finger in die Scheide steckt.

Die Bildfolge entnehme ich dem Katalog. „Die härtesten Bilder wurden weggehängt“, verrät mir im Folkwang Museum, wo ich die Ausstellung sah, ungefragt der freundliche Museumswärter, „wegen der Jugendlichen, die hier vorbei zur Malschule gehen“. Das dürfte jedoch die geringste Veränderung sein, die die Arbeit auf den 12.000 Kilometern von Japan zu uns erfahren hat. Die Ausstellung wurde von dem in Österreich lebenden Japaner Seeichi Furuja und dem Grazer Manfred Willmann erarbeitet, und wenn man deren eigene Fotoarbeiten kennt, kommen einem Zweifel, ob deren Medienverständnis dasjenige von Araki nicht allzu sehr überlagert. In sauber ausgearbeiteten 30 x 40 cm großen Vergrößerungen und größer kommen die Fotos daher, fein gerahmt, meist zu Tableaus arrangiert, um in Europa als Kunst anerkannt zu werden. Araki jedoch pfeift auf die Kunst, ihre Techniken, Strategien und Institutionen. Er will sich mitteilen, und das um jeden Preis; insofern mag er auch seine Präsentation nach westlichen Maßstäben in Europa gutheißen. Nur, seine originäre Praxis ist eine andere. Fotokopierte Bändchen seiner Bilder verschickt er an zufällig aus dem Telefonbuch entnommene Adressen, er scheut sich nicht, so die Besucherinformation in der Ausstellung, seine Aktaufnahmen wiederholt in einem Nudelrestaurant zu zeigen. Die Fotos entstehen mit einer Billigkamera und werden für Bücher immer wieder neu zusammengestellt. Die großenteils schäbig-schnelle Machart dieser Bücher ist immerhin in den Vitrinen zu erkennen, den Charakter der Abzüge, die Araki als Originale dienen, erfahren wir nicht.

Die Ausstellungsmacher sprechen in einem Text zur Ausstellung selbst von ihrer eigenen „Lesart“ der vielleicht eine halbe Million Bilder. Ich verkenne die Schwierigkeit nicht, kann aber den Verdacht nicht abschütteln, daß die hier vorgeschlagene um einiges zu glatt geraten ist. Ich hätte lieber Authentischeres aus dem Faszinosum Japan erfahren. Reinhard Matz

Ausstellung vom 10. September bis 24. Oktober 1993 im Stadtmuseum München. Das Katalogbuch (96 Seiten, 29 x 24 cm, Duplex- und Farbabbildungen, mit ausführlicher Biographie und einer Dokumentation der Monographien) erschien im Verlag Camera Austria, Graz, und kostet 46 DM.

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