Mutmacher-Slogans für das Wahljahr 94

Zum Auftakt des CDU-Bundesparteitages in Berlin machte der Vorsitzende sich und den Delegierten Mut: Kohl möchte „die Krise als Chance begreifen“, Mut und Tatkraft seien gefragt. Dabei verordnet er notwendige materielle Einbußen nicht nur, er preist sie an. In seiner Grundsatzrede im Berliner Congress Centrum umschiffte der CDU-Chef in ausgewogener Manier die heiklen Punkte, wie etwa das ökonomische Desaster der Einheitspolitik. Für Kohlsche Verhältnisse unerwartet forsch, holte er gegen Ausländerhtze und Gewalt von rechts aus.

Höchster Schuldenstand, höchste Arbeitslosigkeit, grassierende Enttäuschung in den neuen Ländern, nach der Einheitseuphorie die wachsende Kluft zwischen Ost und West, gesellschaftliche Desorientierung, Ausländerfeindlichkeit und Rechtsradikalismus – die stärkste Regierungspartei hätte allen Grund, mit Unbehagen auf den bevorstehenden Wahlmarathon 94 zu blicken. Nichts davon war gestern am ersten Tag des CDU-Parteitags zu spüren: Es redete der Kanzler. Die Delegierten dankten es ihm mit Lust am Beifall und versuchten wohl so gut wie möglich an der Saturiertheit und Siegeszuversicht ihres Vormannes zu partizipieren – was bleibt ihnen auch anderes. Von Parteitag zu Parteitag mehr wirkt Kohl für eine Partei unverzichtbar, die er in 20jähriger Arbeit weit unter sich formiert hat. Daß auch nur einer auf dem ausladenden Vorstandspodium mit Aussicht auf Erfolg am Sturz des Kanzlers 94 stricken soll, wirkt im Berliner ICC wieder mal wie eine Geschichte vom anderen Stern. Biedenkopf? Ein Kluger, der schmerzlich gelernt hat, sich zu unterwerfen und sich ansonsten passabel in der sächsischen Nische eingerichtet hat. Geißler? Der einzige Dissident von Format, den sich die Partei eben leisten kann, weil seine Randständigkeit garantiert ist. In der Mitte residiert Kohl und mit ihm, so eine seiner gestrigen Botschaften, die Partei.

Auf Rechtsrucksignale Kohls warteten die Zuhörer, wie schon auf dem Düsseldorfer Parteitag vor knapp einem Jahr, vergebens. Die „klare Abgrenzung“ gegen rechten und linken Extremismus gibt Kohl als Selbstverständlichkeit aus: „Wir müssen das nicht jeden Tag neu beschließen.“ Gutmütig wirkende, allenfalls sanft ironische Bemerkungen zur SPD, eine für Kohlsche Verhältnisse deutliche Verurteilung von Ausländerfeindschaft und Nationalismus, keine Schärfe, keine Bissigkeiten. Statt dessen bleut Kohl den Delegierten die Begriffe ein, mit denen er 94 seinen vierten Wahlsieg einfahren will: „Den Standort Deutschland sichern“, „Schwierige Zeiten erleichtern das Umdenken“, „Bewegung in den Köpfen“, das geht ihm ganz locker von den Lippen. Selbst eine „Vision für morgen“ traut der Kanzler seiner Partei zu, nachdem Scharping gerade angetreten ist, der SPD Pragmatismus beizubringen. Die Krise als Chance zu begreifen gehört jetzt eben zu den Mutmacher-Slogans des Kanzlers. Wenn sonst niemand es sich zutraut, redet eben Kohl davon: „Aufbruch“. Die Klippen umschifft er mit einer austariert cleveren Rede. Das ökonomische Desaster der Einheitspolitik? Auch nur ein Unterpunkt der „umfassenden Strukturkrise“. Vielleicht, so Kohl, habe er sich mit den Jahreszahlen etwas vertan, als er die Überwindung der Krise im Osten versprach. Doch wenn das seine einzige Fehleinschätzung bleibe, könne er damit leben. Jetzt seien Mut und Tatkraft gefragt: „Ansprüche zurückstecken, Gewohnheiten ändern!“ Rhetorisch geschickt, bindet Kohl das, was andere Sozialabbau nennen, ein in ein Modernisierungskonzept: Wo andere noch überkommene „Besitzstände verteidigen“, präsentiert Kohl die unvermeidlichen Einschnitte als überfällige Reform: den „Standort neu definieren“. Kohl verordnet nicht einfach materielle Einbußen, er preist sie auch an: Ein Beitrag, die „Zukunft zu gewinnen“. Auch auf die Frage, warum die Regierung erst drei Jahre nach dem Vollzug der Einheit langsam mit der Wahrheit herausrücke, weiß Kohl die souveräne Antwort: Erstens: „Weder beschönigen, noch dramatisieren“, und wo die Wahrheit trotzdem unangenehm ausfällt gilt: Erst wenn die Krise allen bewußt ist, ist die Zeit günstig, Forderungen auch an den Einzelnen zu stellen. Rat des Kanzlers: „Sicherheit gewinnt man nicht dadurch, daß man sich an Besitzstände festklammert.“

Das war schon mit das Bedrohlichste, was Kohl zum Thema Sicherheit zu sagen hatte. Schärfere Töne etwa im Zusammenhang mit den Vorhaben bei der Kriminalitätsbekämpfung überläßt er anderen. Auf die Innere Sicherheit, eines der erwarteten Wahlkampfthemen, kam Kohl ohnehin erst zu sprechen, nachdem er das „freche und dreiste Auftreten der Neonazis“ gebrandmarkt hatte. Der Ausländerfeindschaft begegnet er mit der Parole „wir brauchen Freunde, und wir brauchen sie mehr als andere“. Denen „menschliche Solidarität mit Ausländern“ fremd sei, verliest Kohl die Leistung der in Deutschland lebenden Ausländer in Zahlen: 200-Milliarden-Beitrag zum Bruttosozialprodukt, 90 Milliarden Steuern und Sozialabgaben. Das sei eben „entschieden höher, als die Aufwendungen unseres Staates, die der ausländischen Bevölkerung zugute kommen“.

Selbst beim Thema SPD verzichtet Kohl, wie schon bei der Haushaltsdebatte, auf polemische Schärfe. Wozu auch. Auf die „Christdemokratisierung“ der SPD (Heiner Geißler) reagiert Kohl in Inhalt und Gestus seiner Rede mit souveräner Dominanz: Nicht einmal mehr freuen will er sich über die Krise der SPD. Eine klare Linie beim politischen Gegner sei nicht zu erkennen. Das macht ihm Sorgen. Mit Scharping, das wird deutlich, ohne daß er seinen Herausforderer auch nur erwähnt, will er fertig werden, indem er ihn zum gelehrigen Schüler erklärt. Einer, aus dem noch was werden könnte: Nach Kohl eben. Matthias Geis, Berlin