Wie die Kirchen auf i-Dötzchen-Fang gehen Von Olaf Cless

Keine zwei Wochen geht mein Sechsjähriger zur Schule, und schon stellen sich erstaunliche Fortschritte ein. Er kann das Wort „Lisa“ erkennen, eine Fußgängerampel in den richtigen Farben ausmalen – und er kann, das Atheistenkind, schon drei hübsche Kirchenlieder singen. Und das, obwohl er bisher täglich nur anderthalb Stunden Unterricht hatte. Eine freundliche ältere Religionslehrerin hat es sich nicht nehmen lassen, wiederholt bei den ABC- Schützen hereinzuschneien und mit ihnen die Lobgesänge zu üben, worin unter anderem klipp- und klargestellt wird: „Wir hören jetzt auf Gottes Wort/ und davon leben wir.“ Bisher war es so, wenigstens theoretisch, daß der Kleine auf das Wort seiner Eltern hören sollte. Der jüngste Wertewandel vollzog sich hinterrücks und ohne jede Vorwarnung. Ein frommer Husarenstreich, der geradezu Respekt abnötigt. Doch für solche Erkenntnisse ist es jetzt zu spät: Der ökumenische Einschulungsgottesdienst hat bereits begonnen. Irgendwo dort hinter der Säule, wo die Klassen 1c und 1d geschlossen Platz genommen haben, sitzt jetzt auch das Atheistenkind, und sicher glühen ihm schon freudig die Absteh-Ohren trotz der kalten Kirchenluft. Logisch, daß er heute unbedingt dabeisein wollte, wenn er schon so fleißig „Der Gottesdienst soll fröhlich sein“ und die anderen Lieder miteingeübt hat. Der Pfarrer kommt gleich unverhohlen zur Sache. So wie zur Zeit ein Gerüst an seinem Gotteshaus stehe, auf daß die morschen Steine durch neue ersetzt werden können, so gehe es überhaupt darum, die Kirche „mit frischen Kräften zu versehen“. Wer in diesem Vergleich die morschen Steine sind, verrät er nicht, so viel aber ist klar: „Ihr Kinder seid unsere große Hoffnung.“ Und deshalb dürfen die Hoffnungsträger jetzt erst mal fröhlich singen und beim Refrain feste in die Hände klatschen. Danach haben die I-Dötzchen, wie die Schulanfänger im Rheinland liebevoll genannt werden, mehrmals die Zauberformel „Kyrie eleison, Christe eleison“ zu intonieren, und der Geistliche verabreicht ihnen die ungemein tröstlichen Worte: „Selbst wenn die Welt unterginge und die Berge ins Meer stürzten – Gottes Gemeinde wird bleiben und leben.“ Weiter geht's mit Gebeten, Liedern und noch einer Ansprache. Daß der liebe Gott in jedem von uns „wie eine Bombe“ einschlagen könne, jawohl: wie eine Bombe, erfahren da die Kids, und daß Er möchte, daß sie alten Leuten über die Straße helfen, schwache Mitschüler nicht als Dummbeutel verhöhnen und auch nicht jubeln, wenn die Asylantenheime brennen. Und daß – der Blick der Pastorin schweift zu den anwesenden Eltern im Kirchenheck – doch bittschön alle am Religionsunterricht teilnehmen.

Und während nochmals Orgel und Gesang anheben, dürfen nun alle frisch Eingeschulten nacheinander vortreten und ihre Namenskärtchen auf jene Holzplatte kleben, die die Form einer Kirche hat: „Gott baut ein Haus“, lautet das Motto, und jeder ist ein Stein, das Doppelklebeband macht's möglich. Auch Atheistenbengel werden gern entgegengenommen. Die Hoffnung des morschen Imperiums macht vor niemandem halt. Nur Volkan, Sevgi und all die anderen kleinen Muselmanen und -mädchen, die sind hier nicht dabei, die konnten heute eine Stunde länger schlafen.