Die neuen Seuchen

Der Eingriff in die Umwelt kann zum Auslöser für neue Krankheitsepidemien werden / Auch bei der Wiederaufforstung droht Gefahr / Begleitende Maßnahmen sind notwendig  ■ Von Friedrich Hansen

Noch in den sechziger Jahren verkündeten die führenden Mediziner stolz, dank der zahlreichen neuen Antibiotika seien die Seuchen endlich besiegt, jedenfalls in den westlichen Industrieländern. Doch schon damals entbrannte ein Streit um die Frage, wem dies zu verdanken sei. Die Schulmediziner reklamierten den Erfolg für sich und wiesen den Antibiotika die Hauptrolle bei der Eindämmung der Seuchen zu. Kritische Sozialmediziner und Historiker widersprachen und meinten, die Anhebung des allgemeinen Lebensstandards und der Hygiene habe den Seuchen den Boden entzogen.

Heute scheint das Auftreten vollkommen neuer Infektionskrankheiten wie Aids, Lyme- Krankheit und Legionärskrankheit, um nur einige zu nennen, beide zu widerlegen. Denn zum einen versagen Antibiotika zumeist gegenüber den neuen Seuchen, und zum anderen kann ein veränderter Lebensstandard häufig als Ursache ausgeschlossen werden.

Erste interdisziplinäre Analysen des Phänomens zeigen, daß der Entstehung der neuen Infektionskrankheiten sehr komplexe Vorgänge zugrunde liegen. Verhaltensänderungen der Menschen werden heute als eine wesentliche Ursache angesehen. Wichtigstes Beispiel hierfür ist Aids. Eine weitere bedeutsame Seuchenursache sind menschliche Eingriffe in die natürliche Umwelt, und zwar nicht nur Umweltzerstörungen. Denn es hat sich gezeigt, daß neue Seuchen ebensogut durch das Roden großer Waldgebiete im Zuge der Industrialisierung entstehen wie umgekehrt durch Wiederaufforstungen, das heißt durch Rückverwandlung von Acker- und Industrieflächen in naturnahe Wildnis.

Während der vergangenen fünfzig Jahre glaubte man, neue Seuchen würden durch neuartige Seuchenkeime ausgelöst, die durch genetische Mutationen aus harmlosen Bakterien oder Viren entstanden. Inzwischen setzt sich jedoch allmählich die Erkenntnis durch, daß abrupte Veränderungen der Umwelt eine entscheidende Rolle spielen können, denn diese veranlassen parasitäre Bakterien oder Viren zum Wechsel ihres bisherigen Wirtes. Den Durchbruch für diese neue Sichtweise brachte eine Konferenz der Rockefeller-Universität in Chicago im Jahre 1989 (Science, August 1993).

In der Tat waren viele der neuen gefürchteten Krankheitserreger zuvor harmlose Tierparasiten. Die HIV-, Ebola-, Marburg- und Gelbfieberviren waren sehr wahrscheinlich allesamt zuvor harmlose Affenparasiten, das Rift-Valley- Fieber kommt von Schafen und Rindern her, der Hanta-Virus von Nagetieren. Es handelt sich also nicht um Mutationen altbekannter Erreger, die dadurch neue krankheitsauslösende Eigenschaften erwarben, sondern um bekannte Tierparasiten, die sich durch Veränderung ihrer Umwelt zu menschenpathogenen Seuchenkeimen mausern. Für dieses neue Seuchenparadigma gibt es bislang nur verstreute Belege, die deswegen noch nicht systematisch darstellbar sind. Einige Beispiele lassen sich anführen.

Im Jahre 1950 baute Brasilien eine neue Autobahn von der Küstenstadt Belem zur neuen, tief im tropischen Dschungel errichteten Hauptstadt Brasilia. So wurde in mehrjährigen Rodungsarbeiten eine riesige Schneise durch den Regenwald gelegt, die das ökologische Gleichgewicht der Region nachhaltig beeinträchtigte. Das zeigte sich bereits wenige Jahre später, als 1961 in der Stadt Belem 11.000 Bewohner an einer grippeähnlichen Epidemie erkrankten. In einem Viruslabor der Rockefeller-Foundation konnte aus dem Blut der Autobahnarbeiter ein seltener Virus namens Oropouche isoliert werden, der zuvor nie in menschlichem Blut gesehen worden war. Es dauerte weitere 19 Jahre mühseliger epidemiologischer Arbeit, um zu beweisen, daß Oropouche die Belem-Epidemie tatsächlich verursacht hatte. Denn erst 1980 entdeckte man jene Mücke, die als Überträger des Virus auf den Menschen fungiert hatte. Damit war das fehlende Glied in der Infektionskette gefunden. Die Mücke hatte sich auf den neu angelegten Kakaopflanzungen entlang der neuen Amazonas-Autobahn explosionsartig vermehrt. Danach infizierten sie in großen Mengen die Bewohner der umliegenden Orte.

Nachdem der Entstehungszusammenhang der Epidemie von Belem durch diese nachträgliche, sehr aufwendige Forschung nun geklärt war, wird neuerdings versucht bei vergleichbar drastischen Eingriffen in die natürliche Umwelt, begleitende medizinische Beobachtungen anzustellen. Ein solches Projekt wird zur Zeit bei Rodungsarbeiten auf Papua-Neuguinea unter Leitung der medizinischen Anthropologin Carol Jenkins durchgeführt. Dazu wird kontinuierlich der Gesundheitszustand der Bewohner in der Umgebung der Abholzungsgebiete überwacht.

Der umgekehrte Fall einer Seuchenentstehung durch Wiederaufforstung von Industrie- und Landwirtschaftsflächen bietet die Geschichte der Lyme-Krankheit. Es handelt sich dabei in erster Linie um eine Tierkrankheit, die nur beiläufig als Infektion beim Menschen auftritt. Dennoch zählt die erst im letzten Jahrzehnt neu entdeckte Seuche mit zu den häufigsten Infektionskrankheiten in den Vereinigten Staaten. Auch in Europa nimmt die Zahl der Infizierten ständig zu. Die Lyme-Krankheit wird von Zecken übertragen. Anfangs tritt häufig an der Bißstelle ein flüchtiger Ausschlag auf. Es folgen grippeähnliche Beschwerden. Erst nach einigen Wochen kommt es dann bei 70 Prozent der unbehandelten Patienten zur Invasion der Bakterien in Organen wie Herz, Gehirn, Gelenke und Nerven. Die Krankheit ist zwar nicht tödlich, führt aber durch chronische Gelenksentzündungen und Gehirnschäden zu dauerhaften Behinderungen. Die Therapie mit Antibiotika hat nur begrenzt Erfolg. Sie kann die chronischen Beschwerden vieler Patienten nicht beseitigen. An einem Impfstoff wird noch fieberhaft gearbeitet. Ihren Namen verdankt die Seuche dem Ort des ersten massenhaften Auftretens: der Gemeinde Lyme im US-Bundesstaat Connecticut. Dort wurde 1975 erstmals der Zusammenhang zwischen Zeckenbiß und den typischen Gelenksentzündungen bei Kindern erkannt. Der Erreger der Lyme-Krankheit, das Bakterium Borrelia burgdorferi, war seit langem bekannt als ein Parasit, der seinen Lebenszyklus zwischen Zecken und Rotwild teilt. Im Zuge der Industrialisierung und damit verbundener Waldrodungen im 18. und 19. Jahrhundert war der Bestand an Rotwild in den USA und mit ihm die Zecken nahezu ausgerottet. Nur ein paar Inseln blieben verschont, unter anderem Long Island bei New York. Von hier aus, das ergaben Untersuchungen von Alan G. Barbour und Durland Fish (Science, Juni 1993), erfolgte die jüngste Invasion von Wild, Zecken und Bakterien in die neu aufgeforsteten Waldgebiete Neuenglands. Das Küstenstädtchen Lyme ist die der Nordspitze von Long Island nächstgelegene Festlandgemeinde. Mittels eines gentechnischen Verfahrens, der Polymerase-Kettenreaktion, hatte man nachträglich herausgefunden, daß im Museum von Long Island aufbewahrte Blutproben aus den fünfziger Jahren schon Borrelia burgdorferi enthielten. So konnte man auch jene Regionen, in denen Lyme-Krankheiten drohen, ermitteln. Es sind in erster Linie vorstädtische Wohnbezirke mit benachbarten Wild- und Waldzonen.

Die Abwehr dieser neuen Seuchen kann nach Lage der Dinge nicht in erster Linie den Medizinern überlassen werden. Vielmehr bedarf es interdisziplinären Sachverstandes, um vertretbare Kompromisse zwischen wünschenswerter Rückgewinnung von naturnaher Umwelt und den damit verbundenen Gesundheitsrisiken zu finden.