Eine lateinische Kultur in einer slawischen Welt

Der vierte Teil der taz-Serie zur Geschichte in Osteuropa beschreibt den Mythos der „rumänisch-römischen Kontinuität“: Nicht nur in den Buchhandlungen Bukarests stapeln sich billige Ausgaben römischer Dichter und Denker.  ■ Von Keno Verseck

„Wir Rumänen“, sagt der Mann, „sind friedlich und hatten nie nichts mit irgendwem.“ Er ist um die Fünfundvierzig, gelernter Ingenieur und heute Besitzer eines Ein-Mann-Import-Export-Unternehmens. Er streitet entrüstet ab, daß Rumänien während der Kriegszeit Juden deportiert und Roma in Vernichtungslager geschickt hat.

Ein Extremist ist dieser Mann nicht. Er spricht nur aus, was im Land Konsens scheint. Die Amnesie ist keine rumänische Krankheit, aber im Land stark verbreitet. Die demokratischste Periode in der Geschichte des Landes prägt heute eine korrupte Obrigkeit. Sie hat ihre Macht gegen eine zersplitterte, politikunfähige Opposition gesichert. Die Wirtschaft bewegt sich am Abgrund, die Gesellschaft ist in Lethargie verfallen. Die Entflechtung des Netzes aus Lügen und Legenden, in das sich Politik und Gesellschaft verfangen haben, ist für die einen nicht von Interesse, für die anderen außerhalb ihrer Möglichkeiten.

Dreieinhalb Jahre nach dem Umsturz erinnern sich die Menschen noch genau an eiskalte Wohnungen und leere Läden. Doch gleichzeitig schwärmen viele von früher, „wo alles seine Ordnung hatte und die Preise niedrig waren“. Erwähnenswerte Debatten über die Rolle des Individuums in der Diktatur hat es nicht gegeben. In den Augen der meisten war der kommunistische Alltag ein Alptraum, der Kommunismus selbst hingegen eine lästige, absurde Pflichtübung. Es gab, so heißt es, im Lande keinen einzigen Kommunisten. Eine Legende, die nicht nur die Strukturen der Diktatur ausklammert, sondern sich auch bestens in den herrschenden Patriarchalismus einfügt, hat Furore gemacht: Schuld an allem war nicht Ceaușescu, sondern seine ihn irreleitende Gattin Elena.

Doch Mythen ranken sich nicht nur um die Person Ceaușescus. Politik und Gesellschaft bedienen sich auch weiterhin aus dem Polit- Baukasten seines „Nationalkommunismus“. Die direkte Abstammung von den Römern und die mehr als 2.000jährige Kontinuität des Rumänentums auf ihrem Territorium, die der Diktator angeordnet hatte und an der Legionen von Historikern bastelten, ist offizielle Staats- und Schulideologie geblieben. Sie besagt, daß die Daker, die einige Jahrhunderte vor Christus auf heutigem rumänischem Territorium einen Staat gegründet hatten und später von den Römern romanisiert worden waren, die „Urahnen“ der Rumänen gewesen seien.

Auf die in Wirklichkeit kaum stichhaltig überprüfbare sogenannte „dako-rumänische Kontinuität“ hatten sich vor Ceaușescu schon eine Reihe rumänischer Nationalisten und Kämpfer für die rumänische Unabhängigkeit von den Habsburgern bzw. Ungarn berufen. Aus dem allgegenwärtigen Bewußtsein, als die einzigen Nachfahren der Römer eine der höchsten Kulturnationen zu sein, speist sich bei vielen Rumänen ein merkwürdiger Stolz. Doch nicht nur das.

Rumänien hält sich auch viel darauf zugute, daß sich eine hochstehende lateinische Kultur inmitten einer natürlich minderwertigen slawischen Welt erhalten hat. Und nicht zuletzt wird die römisch-rumänische Kontinuität auch gegen die Ungarn verwendet – im Streit darum, wer zuerst Siebenbürgen besiedelt und zivilisiert hatte.

Die bedeutendste ungarische Stadt in Siebenbürgen, Klausenburg (rumänisch: Cluj, ungarisch: Kolozsvár), wurde unter dem Kommunismus in Cluj-Napoca umbenannt, weil dort die Ruinen einer Stadt Napoca gefunden worden waren, die, so heißt es, von den Dako-Romanen gegründet worden sei. Der ultranationalistische Bürgermeister Klausenburgs, Gheorghe Funar, will den Namen Cluj nun ganz abschaffen und die Stadt in Napoca umbenennen.

Überhaupt spielt die Archäologie die bedeutendste Rolle beim Beweis der römisch-rumänischen Kontinuität. Das Fernsehen berichtet häufig in speziellen Sendungen, aber auch in den Abendnachrichten von archäologischen Ausgrabungen – sofern es sich um Funde aus der griechisch-römischen Zeit handelt.

Und auch die rumänischen Buchläden sind mit Büchern zum Thema gut ausgestattet – hier finden sich vor allem billige Ausgaben alter römischer Chroniken und Literatur. Im Alltagsbewußtsein spielt die rumänisch-römische Kontinuität keine übermäßige Rolle. Doch sobald das Gespräch auf den historischen Konflikt zwischen Ungarn und Rumänien kommt, beten Rumänen das eingetrichterte Schulwissen herunter.

Mit einer Empfindlichkeit, die ihresgleichen sucht, reagiert die rumänische Gesellschaft auf die Zwischenkriegszeit und die Verbrechen der faschistischen Antonescu-Diktatur. Angehörige aller sozialen Schichten sprechen von „anti-patriotischen Verleumdungen“. Die bekannte, auch im Westen angesehene Schriftstellerin Ana Blandiana leugnet die Vernichtung von Juden und Roma auf rumänische Initiative hin. Andere Intellektuelle geben immerhin zu, daß Rumänien, welches Hannah Arendt einst als eines der antisemitischsten Länder Europas bezeichnet hat, unter Anonescu Todeslager eingerichtet hatte. Doch immer fügen sie auch hinzu, daß es ihnen schwer fällt, dies tatsächlich zu glauben.

Für die Mehrheit der Rumänen geht es dabei allerdings weniger um eine positive Bewertung der Antonescu-Verbrechen. Die Stilisierung Antonescus zum Nationalhelden, die schon unter Ceaușescu eingesetzt hatte, betreiben heute vor allem ultranationalistische und faschistische Parteien. Für die meisten Rumänen hingegen darf entsprechend dem nationalen Bewußtsein, daß die Rumänen „niemals anderen etwas zuleide getan“ haben, nicht gewesen sein, was geschehen ist. So ist denn auch Hitlers „Mein Kampf“ nicht deshalb Bestseller geworden, weil der deutsche Faschismus in Rumänien so viele Anhänger hatte, sondern weil es eine unschuldige, vorurteilslose Neugier gibt.

Von historischen Legenden zehren auch die meisten rumänischen Minderheiten – gewissermaßen als Reaktion auf die Assimilierung durch den rumänischen Staat. Viele Angehörige der ungarischen Minderheit blicken nostalgisch auf die Zeit der ungarischen Herrschaft in Siebenbürgen zurück und sehen sich gegenüber den Rumänen als europäisch-zivilisiert. Die Ende des vorigen Jahrhunderts einsetzende Magyarisierungspolitik gegenüber Rumänen oder auch Deutschen wird ebenso abgestritten wie etwa die Tatsache, daß Rumänen seit rund 200 Jahren die Mehrheit in Siebenbürgen bilden.

Ähnlich verklären viele Siebenbürger Sachsen und Banater Schwaben ihre einstige Rolle als wirtschaftliche Elite in Rumänien. Die Verstrickungen in den deutschen Faschismus aufzuarbeiten blieb bislang nur das Thema weniger Intellektueller unter den Deutschen aus Rumänien. Eine auf traurige Weise einzigartige Ausnahme sind die rumänischen Roma. Sie haben das Gedankengut der Mehrheitsgesellschaft verinnerlicht, die sozio-ökonomische Probleme ethnisch-rassistisch wahrnimmt: Die meisten Zigeuner glauben, daß Zigeuner Kriminelle sind.

Die gescheiterte Hoffnung, das Elend würde sich von heute auf morgen in ein Leben voller Annehmlichkeiten verwandeln, hat Mythen, Lügen und Legenden geboren. Kein anderes Land des kommunistischen Osteuropa erlebte derartig absolutistische Zustände wie Rumänien. Der Geist, den der größenwahnsinnige Diktator heraufbeschwor, schlägt nun zurück. Und die Geschichte beginnt wieder dort, wo sie nach dem Krieg einmal für beendet erklärt wurde.