Ein Leben im Zwinger

■ Nach 22 Jahren Haft entscheidet das Landgericht Lübeck über die Entlassung der RAF-Gefangenen Irmgard Möller

Zwölf Jahre lang bedeutete Besuch für Irmgard Möller: splitternackt ausziehen vor den argwöhnischen Augen einer Gefängniswärterin und Kleider wechseln. Vor jedem Besuch und danach. Der Lohn der demütigenden Prozedur: ein einstündiges Gespräch mit einem Menschen von draußen, durch eine Glasscheibe hindurch, belauscht von zwei beisitzenden, mitprotokollierenden Beamten.

Die Beamten hören auch heute noch mit, doch seit 1989 kann Irmgard Möller ihren Besuch wieder riechen. Die verhaßte Trennscheibe ist weg, und auch die Kleider darf sie anbehalten – ein Ergebnis des Hungerstreiks 1989, mit dem die RAF-Gefangenen eine Verbesserung ihrer Haftbedingungen durchgesetzt haben.

Seit 22 Jahren lebt die 46jährige RAF-Aktivistin völlig abgeschottet von der Außenwelt in den Hochsicherheitstrakts der Republik. Meistens war sie mutterseelenallein, im günstigsten Fall mit Genossinnen in Kleingruppen isoliert. „Das klingt ganz nett. Aber stell' dir einfach vor, du mußt jahrelang Tag und Nacht mit deiner besten Freundin verbringen“, so schilderte eine Besucherin die Gruppenhaft.

Besuch ist die einzige Möglichkeit, den Kontakt zur Außenwelt zu halten. Fast zwanzig Jahre lang war eine Stunde pro Monat erlaubt, mittlerweile sind es drei, hinzu kommt der Kontakt zu einer offiziellen Besuchergruppe. Viel Zeit zum Fremdeln bleibt da nicht. „Irmgard ist ein sehr ruhiger, sanfter Mensch, aber auch ausgesprochen direkt“, sagt ihre Anwältin Anke Brenneke-Eggers. Und ein Besucher urteilt: „Unstillbar neugierig.“

Mit den Jahren hat die zu lebenslanger Haft und 15 Jahren Freiheitsstrafe verurteilte Frau gelernt, die verbeamteten Spanner im Besucherraum zu ignorieren. Und die kurze Zeit zum Fragen zu nutzen: wie sich der Alltag verändert, das politische Klima, was der Aufbau der „sozialen Gegenmacht von unten“ macht. Irmgard Möller hat vergangenes Jahr die Abkehr der RAF vom bewaffneten Kampf wesentlich mitgetragen, „weil es den politischen Prozeß nicht mehr weiterbringt“. Sie will raus, und draußen politisch weiterarbeiten, allerdings jenseits der Illegalität. „Ich habe nicht das Bedürfnis, mich irgendwo an den Strand zu legen. Überhaupt nicht“, sagte sie 1992 gegenüber dem Spiegel.

Nun hat Irmgard Möller erstmals in ihrer 22jährigen Gefangenschaft einen Antrag auf Haftentlassung gestellt. Ihre Gesundheit ist durch die Strapazen ruiniert: Ihr Kreislauf ist labil, die Schilddrüse arbeitet fehlerhaft, ihr Immunsystem ist angegriffen. Mitte des Jahres litt sie so sehr unter einer Gesichtsentzündung, daß sie, mit zugeschwollenen Augen und verkrustetem Gesicht, monatelang die Besuche absagen mußte.

Möller wirkt zunehmend erschöpft: „Du brauchst immer mehr Kraft, um überhaupt durchzuhalten“, erzählte sie einem Besucher.

„Wir müssen damit umgehen lernen, daß die Gesundheit kaputtgemacht wird“, sagt Gabriele Rollnik, die von 1989 bis 1992 mit Irmgard Möller, Christine Kuby und Hanna Krabbe im Sicherheitstrakt Lübeck-Lautenhof einsaß. Eine Welt aus zehn Zellen. Drei davon sind von den Frauen belegt. Ihr Wohnzimmer ist eine Doppelzelle mit Fernseher, Sessel, Tisch und Regalen, es gibt eine Küche und einen Hof mit Bäumen und Blumen. „Durch die Blumen konnten wir endlich wieder die Jahreszeiten unterscheiden.“

Ihre Identität hat Irmgard Möller in den kargen Zellen der Sicherheitstrakte nicht verloren. In zwanzig Jahren hat sie nicht abgeschworen, kein Gnadengesuch gestellt, keinen Antrag auf Entlassung. Bei der gesetzlich vorgeschriebenen Haftprüfung nach 15 Jahren fiel Möller durch. Die Justiz befand: Die Gefangene zeigt partout keine Reue. Möller hält dagegen: „Wir werden niemals taktieren.“ Mittlerweile scheint es, als ob die Justiz die Haftdauer von Möller als Meßlatte mißbrauchen will für die anderen RAF-Gefangenen. Damit jeder weiß: Unter zwanzig oder mehr Jahren geht nichts mehr.

Im Oktober entscheidet das Lübecker Landgericht über die Entlassung von Irmgard Möller, die von vielen Seiten auch jenseits der Szene gefordert wird. Selbst kirchliche und gewerkschaftliche Organisationen setzten sich für die Freilassung der am längsten inhaftierten Frau Deutschlands ein. Am 9. Oktober wird in Lübeck demonstriert: „Irmgard muß raus.“

„Es gibt mit Sicherheit keine andereFrau, die in der Bundesrepublik das durchzumachen hatte, was sie durchmachte“, sagte Klaus Jünschke, als er im Juni 1988 freigelassen wurde. Gemeinsam mit ihm war Irmgard Möller am 8. Juli 1972 in Offenbach festgenommen worden. Zu dem Zeitpunkt war die Germanistikstudentin erst ein Jahr in der RAF.

„Ich habe es zu keinem Zeitpunkt bereut“, sagt Irmgard Möller. 1976 wurde sie wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung zu 41/2 Jahren Haft verurteilt. Doch noch vor ihrer Entlassung fand sich ein „Kronzeuge“. Er beschuldigte sie der Beteiligung am Anschlag auf das US-Hauptquartier in Heidelberg.

Dabei wurde der Computer, der die Angriffe der US Army auf die vietnamesische Zivilbevölkerung koordinierte, zerstört, drei Menschen starben. Irmgard Möller wurde nach Stammheim verlegt. Dort überlebte sie am 18. Oktober 1977 als einzige die Totennacht von Stammheim, bei der Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan- Carl Raspe starben. Möller kam mit vier Messerstichen in der Herzgegend ins Krankenhaus. Und besteht bis heute darauf, daß ihre Genossen ermordet wurden. 1979 wurde sie zu lebenslanger Haft plus 15 Jahre verurteilt.

Am 13. Mai feierte sie ihren 46. Geburtstag – hinter den Mauern des Frauengefängnisses Lübeck- Lauerhof. Es war ihr 21. Geburtstag in Gefangenschaft. Eine unvorstellbar lange Zeit, doch Irmgard Möller wirkt gelassen.

„Sie ist erschreckend dünn und schmächtig“, beschreibt sie ein Besucher, „doch ihre Ausstrahlung ist ruhig und zugleich kraftvoll. Sie hat die Würde eines Menschen, dem bereits alles angetan wurde. Und der widerstanden hat.“ Michaela Schießl