Im Freien spielen

„Der junge Werther“, eine filmische Hommage aus Paris an den Roman, den junge Selbstmörder einst in Abschiedsbriefen zu ihrem letzten Freund erklärten. Eher Marivaux als Goethe? Mit dem Regisseur Jacques Doillon sprach  ■ Thierry Chervel

Still und schön liegt Paris da, Julisonne scheint. Guillaume hat sich aufgehängt. Jacques Doillons Werther ist schon tot, bevor sein „Werther“ beginnt. Oder ist Guillaumes bester Freund Ismael der Werther des Films? Ismael begibt sich zusammen mit seinen Schulfreunden und -freundinnen auf die Suche nach Guillaumes Motiv und findet Miren, die blond genug ist, um unerwiderte Anbetung auf sich zu ziehen. Er wird sich selbst in sie verlieben – aber darum nicht Selbstmord begehen. Mit einer Art heiteren Melancholie geht der Film über Guillaumes Leiche. Die Suche nach seinem Selbstmordmotiv gerät den Jugendlichen über ihren eigenen sentimentalen Verstrickungen zusehends aus dem Blickfeld.

Eine eigenartige Entwicklung zeichnet sich in Doillons letzten Filmen ab. Bisher galt er als der Regisseur des „huis clos“, der geschlossenen Kreise und Räume. Wie in einer Druckkammer tobten darin die Leidenschaften – für Zuschauer war das manchmal schwer erträglich. Nun öffnen sich die Räume. „Der kleine Gangster“ von 1991 war ein Roadmovie, auch wenn die Landschaft zumeist nur durchs Autofenster wahrzunehmen war. „Der junge Werther“, der 23. Film des 50jährigen Regisseurs, spielt fast ganz im Freien.

Im Titel Ihres Films fehlen die „Leiden“. Warum?

Reicht nicht der Name „Werther“, um zu wissen, daß gelitten wird? Außerdem wollte ich den Roman nicht verfilmen.

Wie würden Sie die Beziehung zwischen dem Roman und Ihrem Film beschreiben?

Ich wollte das Porträt einer Generation von dreizehn- oder vierzehnjährigen Jugendlichen aus einem bestimmten Pariser Milieu malen, aber zugleich schien sich mir die Frage der Leidenschaft zu stellen. Auch zweihundert Jahre nach seiner Entstehung symbolisiert der „Werther“ noch am ehesten diese Art von Liebe. Aber es ging mir nicht um eine neue Interpretation des „Werther“. Meine Frage war eher: „Warum habe ich das Buch in diesem Alter gelesen?“ Weil es für mich wie ein Vertrauter war. Denn wenn man verliebt ist, fällt es sehr schwer, darüber zu reden, es sei denn, man findet jemanden, der an derselben Sache leidet. Darum ist ein Buch wie „Werther“ der beste Vertraute. Mein Film ist eine Huldigung an ihn.

Mich hat der Film weniger an Goethe erinnert als an Marivaux, dieses Ballett der unerwiderten Verliebtheiten, in dem keiner der Jugendlichen zum anderen findet. Anders als bei Goethe werden die Gefühle ausgesprochen, die Liebe wird erklärt.

Die Liebe wird erklärt. Es gibt kein Hindernis wie Charlottes Verlobten im „Werther“. Aber hat Guillaume seine Liebe erklärt – wenn Liebe der Grund für seinen Selbstmord war? Ich weiß bis heute nicht, ob Guillaume der Werther des Films ist oder Ismael, der seine Liebe zu Miren erklärt. Hier spielt das Casting eine wichtige Rolle. Ich hatte zwar ungefähr im Kopf, was für einen Film ich machen wollte, aber wenn der Darsteller des Ismael weniger extrovertiert gewesen wäre, hätte das die Beziehungen zwischen den Kindern verändert.

Haben Sie das Drehbuch erst geschrieben, nachdem Sie die Kinder gefunden hatten?

Das Drehbuch war vorher geschrieben – ich improvisiere nicht. Aber an bestimmten Stellen ging es nicht auf. An einem Sonntagmorgen habe ich die letzten fünfzehn Szenen neu geschrieben. Ich hatte das Gefühl, daß die Kinder nicht richtig drin waren im Film, daß ich das Drehbuch an sie heranführen mußte, ohne dabei die Grundidee zu verändern. Das passiert oft. Eine Szene funktioniert erst, wenn man zugleich völlig in die Story und in die Schauspieler eindringt.

Wie haben Sie die Kinder gefunden?

Wir suchen drei bis sechs Monate lang in den Schulen. Die Kinder sollen zugleich Charme haben und begabt fürs Kino sein. Äußerlichkeiten sind mir egal. Ich habe mir nicht gesagt, Ismael ist groß und blond und hat blaue Augen. Meine Assistenten sollen nur darauf achten, wer ihnen gefällt und wer nicht. Von Ismael hatte ich überhaupt keine Vorstellung. Vielleicht hätte ich ihn gern ein bißchen introvertierter gehabt – dann hätte er mir selbst oder Goethes Werther mehr geähnelt. Aber ich habe meinen Assistenten nicht gesagt: „Introvertiert soll er sein.“ Sie haben jemand extrovertierten gefunden, Ismael, der wunderbar war, und da war klar, daß wir mit ihm drehen würden, auch wenn man dafür das Drehbuch ein bißchen ändern mußte.

Für meinen vorletzten Film, „Der kleine Gangster“, suchte ich einen einsamen verwahrlosten Jungen. Als ich Gerald gesehen habe, wußte ich, daß er der Richtige ist. Schnell zeigte sich, daß er überhaupt nicht begabt war – anders als Ismael, bei dem das Talent von Anfang an auf der Hand lag. Gerald war wie der Junge, den er darstellen sollte, gewalttätig und verschlossen. Also haben wir gearbeitet, monatelang, ganz vorsichtig, um zu sehen, ob er die Gewalt, die er in sich hat, benutzen kann und ob ich sie benutzen kann. Zu Beginn der Dreharbeiten hatten wir Zweifel, aber dann hat sich gezeigt, daß er fähig war, diese Heftigkeit auch darzustellen. Er war toll. Ich hatte mich nicht geirrt.

Wie sind die Dreharbeiten mit den Kindern gelaufen?

Die Gruppenszenen haben sehr viel Arbeit gemacht, es war Sommer, Ferienzeit, sehr heiß. Das Schuljahr war zu Ende, und ich steckte die Kinder wieder in den Klassenraum. Da entstand eine Art Spiel zwischen den Kindern, das ich ja ganz lustig fand und das ich verstand, aber das die Arbeit erschwerte. Der Film war für sie ein Ferienabenteuer. In den Gruppenszenen entstanden dann Albereien. Einer der Jugendlichen, der gerade nicht mitspielte, brachte die anderen zum Lachen! Das war sehr schwierig für mich. Ich konnte es nicht richtig bremsen. Das heißt nicht, daß die Kinder sich nicht engagierten. In den Zweier-, Dreier- oder Viererszenen waren sie sehr konzentriert, auch in den langen Einstellungen von mehreren Minuten. Die Gruppenszenen mußte ich dagegen beim Schneiden flicken. Aber alles in allem sind die Dreharbeiten gut gelaufen.

Charlotte Gainsbourg hat mir in einem Interview anläßlich ihres neuen Films „Der Zementgarten“ erzählt, daß die Atmosphäre bei „L'amoureuse“, dem Film, den sie mit Ihnen gemacht hat, sehr streng war. Es soll eine Art Beklemmung geherrscht haben, so daß man kaum mal zu lachen wagte.

Ich kann mir vorstellen, daß die Dreharbeiten mit mir weniger angenehm für sie waren. Es war ein schwieriges Jahr für sie. Ich selbst habe keine besonders guten Erinnerungen an diese Dreharbeiten. Da war so ein Unernst, wir kamen nicht richtig zusammen. Dreharbeiten sind nicht dazu da, daß man sich amüsiert. Ich möchte, daß mir die Leute viel von sich geben. Dafür müssen sie sich konzentrieren.

Es stimmt, daß ich streng bin. Ich habe sehr genaue Vorstellungen, etwa über einen Tonfall oder

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eine Bewegung. Und ich erwarte, daß die Leute in diesem Moment trotz des Drucks, oder gerade durch ihn, etwas erfinden.

Ist das bei Kindern leichter zu erreichen?

In der Regel ist es leichter mit Kindern als mit Erwachsenen, mit Laien als mit Profis, mit Frauen als mit Männern, aber verallgemeinern läßt sich das nicht. Profis haben nach zehn, fünfzehn Jahren eine Vorstellung davon, wo sie „gut“ sind, und wo es gefährlich für sie wird. Oft gerät man dann nicht so sehr an einen Schauspieler als an ein Bild, das er von sich hat und das er mit aller Kraft durchsetzen will.

Diese Frage des Bilds, das die Akteure von sich haben, das sie im Film abgeben und das sich schließlich die Zuschauer von ihnen machen, hat mich auch bei den Jugendlichen im „Jungen Werther“ beschäftigt. Manche Leute sagen, sie seien völlig unnatürlich. Jugendliche seien ganz anders ...

Der Vorwurf der Unwahrscheinlichkeit ist wohl der konservativste überhaupt. Was ist wahrscheinlich? Ist ein fait divers, eine Meldung aus den vermischten Seiten der Zeitungen, wahrscheinlich? Ist ein Roman von Dostojewski wahrscheinlich? Wahrscheinlichkeit interessiert mich nicht. Wer sich in den Grenzen der Wahrscheinlichkeit bewegt, hat nur keine Lust, das Publikum zu irritieren.

Was diesen Film angeht, so glaube ich, viele Leute wollen einfach nicht wahrhaben, daß vierzehnjährige Jugendliche sich artikulieren können. Es gibt eine Art Dummheit der Erwachsenen, die gar nicht sehen wollen, wie intelligent die Jugendlichen sind. Die Erwachsenen glauben das, weil die Jugendlichen nicht gern mit ihnen reden. Lange genug haben die Eltern sie dazu gezwungen – jetzt, mit vierzehn, wollen sie nicht mehr. Aber das heißt ja nicht, daß sie nicht untereinander kommunizieren. Ich habe sehr viel mit Jugendlichen gearbeitet und kann nur sagen, daß sie mir keineswegs weniger sensibel, intelligent oder artikuliert und eher weniger konformistisch erscheinen als die meisten Erwachsenen.

Vielleicht ist Verdrängung im Spiel, man hört, wie klug die Kinder über Gefühle reden, und möchte sich nicht eingestehen, daß man seitdem nichts dazu gelernt hat ...

... sondern eher zurückgefallen ist. Die Hoffnungen, Träume und Begierden sind zerstoben, darauf ist man nicht stolz.

Gab es Momente, wo die Kinder selbst sagten, daß ihnen bestimmte Dialogstellen unwahrscheinlich vorkommen?

Es ist klar, daß sich durch die mehrmonatige Zusammenarbeit die Färbung der Dialoge ändert. Ich lerne die Schauspieler kennen, ich weiß, wie sie reden, und das beeinflußt mich. In allen Filmen gibt es auch Stellen, wo ein Schauspieler behauptet, etwas so nicht sagen zu können. Man muß dann sehr genau herausfinden, was sich hinter der Weigerung verbirgt.

Auch mir sind ein paar Stellen unecht und gespielt vorgekommen, zum Beispiel das Weinen der Kinder am Grab von Guillaume.

Aber das war ganz und gar nicht gespielt! Eines der Mädchen ist am Grab in Tränen ausgebrochen und hat die anderen angesteckt, eine Freundin von ihr war vor kurzem gestorben. Es ist ohne mein Zutun passiert. Schon komisch, daß einem gerade die Momente als exzessiv vorgeworfen werden, die von selbst passiert sind.

Vielleicht ist diese Forderung nach „Natürlichkeit“ oder „Wahrscheinlichkeit“ diesem Alter ohnehin unangemessen. Ein Vierzehnjähriger ist weder Kind noch Erwachsener. Man sucht noch ein Bild von sich, beobachtet sich ständig selbst, experimentiert mit sich. Man ist noch nicht oder nicht mehr mit sich identisch, manche Geste wirkt darum künstlich, wie ausprobiert.

Ich empfinde eine Art Verlegenheit in den Gesten – wenn ich mir zum Beispiel Mirabelle ansehe, die den Körper einer jungen Frau hat, aber gleichzeitig schlenkern die Arme so seltsam ungeschickt um sie herum. Es scheint unnatürlich. Aber den Jugendlichen selbst war es überhaupt nicht peinlich, sich hinterher auf der Leinwand zu sehen. Auch darum wundert mich dieser Vorwurf der Unwahrscheinlichkeit. Ständig laufen im Fernsehen Serien, in denen Jugendliche die lügnerischsten, geheucheltsten, falschesten Sachen sagen, und niemand beschwert sich. Vorwürfe kommen nur, wenn jemand wie ich monatelang mit den Jugendlichen zusammenarbeitet.

Welche Rolle spielt der Hintergrund der Bilder für Sie? Paris ist sehr schön in ihrem Film, diese alten Häuser im Spätsommerlicht. Frankreichs Süden im „Kleinen Gangster“ war dagegen häßlich und kalt, ein Welt aus Mietskasernen, Strommasten und Tankstellen.

Vielleicht habe ich im „Jungen Werther“ den Charme von Paris im Sommer eingefangen, aber nur weil er da war. Wesentlich ist mir das nicht. Ich hätte den Film genauso gut in Straßburg, London oder Hamburg drehen können. Ich mache keine atmosphärischen Einstellungen oder Landschaften. Mir geht es um den Vordergrund. Die Landschaft, die mich interessiert, ist das menschliche Gesicht. Ich will sehen, wie Körper sich berühren oder einander ausweichen. Manchmal stelle ich die Schauspieler einfach mit dem Rücken zur Wand und dem Gesicht zur Kamera. Dann kommt der Kameramann und sagt, „es wär' doch hübscher, wenn wir noch dies und das mit ins Bild nehmen“. Aber nein, mir reicht das. Keine Effekte, kein Gegenlicht.

Gibt es eine Dimension des Sozialen in Ihren Filmen?

In bestimmten Filmen ja. „Der kleine Gangster“ hatte eine soziale Aussage. Aber ich habe keine Lust, ein Spezialist der Vorstädte oder des fünften Arrondissements von Paris zu werden.

Werden soziale Themen nach dem Zusammenbruch des Kommunismus und mit der Rezession nicht wichtiger?

Nur weil irgendwo eine Mauer einstürzt, steigt doch nicht mein Interesse am Sozialen.

Jacques Doillon: „Der junge Werther“. Kamera: Christophe Pollock. Mit Ismael Jolé-Ménébhi, Mirabelle Rousseau, Thomas Brémond u.a., Frankreich 1992, 100 Min.