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Village VoiceSinnlich bis sinnertrunken

■ „Berlin Young Composers“ zwischen Nature und Culture

Es gibt CDs, die, obwohl frisch ins Haus geflattert, tage- oder gar wochenlang ein ungehörtes Dasein fristen: Fast ist's, als sei etwas verhext an ihnen, als wehrten sie sich, in die alles entblößende Wiedergabemaschine eingeführt zu werden, als wollten sie, vielleicht durch gründlich abstoßendes Cover, ihren Inhalt für immer verbergen.

„CATARACT“ ist mein neuestes Exemplar dieser Sorte. Die CD trägt, schick auf Englisch, den Untertitel „Musik (ja mit „k“!) Between Nature and Culture/Berlin Young Composers“. Nun habe ich sie endlich in die Lade geschoben, los ging's, wie es losgehen mußte: das „Saxophon-Ensemble of HdK Berlin“ intoniert in Musikschulmanier „in Tonic“ von Martin Kogler. Brave Harmonien mit Bläsersatz und Dudelsack-Allüre ziehen da vorüber, ein Free-Jazz- Ausbruch vor der Reprise soll wohl dramaturgische Rondo- Form vortäuschen, und richtig schön peinlich wird's, wenn sich das Ensemble zwischendurch an einer Jazz-Ballade versucht. Schade, da konnte sich Martin Kogler wohl nicht recht entscheiden, was er in seinen Tonic so reingießen soll, hat einfach alles genommen, was in der Hausbar vorhanden war; kein Wunder, daß ein untrinkbares Gesöff dabei herauskam.

Dann aber knapp vier Minuten Stimmensolo mit Corinna Reich, und hoppla, denk' ich, das ist doch Jeanne Lee, schwarze Vokalvirtuosin und Musizier- und Lebenspartnerin des Free- Jazz-Vibraphonisten Gunter Hampel? Leicht, so leicht, in den Wind gesungen schwingt die phantastisch aufgenommene Stimme dahin, sich assoziativ in freie Felder hangelnd, Klang-in- Wort-und-rückwärts modulierend. Und welch seltene Tugend der CD-Hersteller: Sie haben an Dramaturgie gedacht.

Eine halbe Stunde später kommt der zweite dreiminütige Teil – Corinna Reichs Version von „Somebody knows you“. Und nun ist wirklich ein Gunter- Hampel-Vibraphon dabei! Daß die Sängerin jetzt nicht nur zuviel Jazz machen will, sondern einfach überhaupt nur zuviel will – und so die fliegende Leichtigkeit verflogen ist –, verzeiht sich ob des ersten Teils aber doch allemal.

Dazwischen musikalische Abenteuerreise: Tobias Rüger interpretiert eine eigene Komposition für Tenorsaxophon, läßt aus Archie-Shepp-artig verrauscht angeblasenen Tönen Mehrklänge aufleuchten, wie aus Nebelschwaden hervortretend. In stetem Pianissimo erklingen Mikrointervall-Linien, in die sich unmerklich Obertöne ein- und ausschleichen, eben noch Klangfärbung waren und plötzlich, bis sie auf gleiche Art und Weise wieder verschwinden, zweite Stimme sind. Für vier kurzweilige Minuten sorgt er, bis er mit dem ersten Forte völlig unvermutet in Effektraserei ausbricht. Aber dafür gibt's ja programmierbare CD-Spieler: Was im Studio versäumt wurde, läßt sich so einfach wegschneiden.

Anschließend zehn herrlich belanglose Minuten „Sommermusik“ qua Klangcollage von Udo Agnesens und Marcus Waibel. Sinnlich bis sinnertrunken ziehen allerlei Klänge in nichts- wollender Bescheidenheit dahin, typische John-Cage-Sounds eines präparierten Klaviers tupfen sich darauf. Und nachher ist's, als sei man eben in einem hübschen Bergsee geschwommen. Nette Musik zu Campari, mit Verlaub.

Die „Wassermusik“ Christoph Grieses hingegen schwimmt eher selbst, verschwimmt in konturlosesten Klanggebilden und bleibt doch unaufdringlich anhörbar. Zwei harmlose „Tibetan Dixie“, wie sie ihr Tonsetzer Nikolaus Schäuble nennt, vervollständigen die CD und bieten äußerst musikalischen Sommerjazz, Light-Versionen der Dixie- Rückbesinnungsphase des Art- Ensemble-of-Chicago sozusagen; so hervorragend gespielt, daß man kaum zu entscheiden vermag, welcher der Musiker da noch herausragen könnte.

Die wehrhafte CD aber, so mußte es wohl kommen, ist mein Hintergrundmusik-Sommer-Hit 1993 geworden; und hält sogar im Herbst noch an. Marc Maier

CATARACT, zu beziehen bei: jété, Agnesens, Graefestr. 33, Berlin, Telefon: 030/ 692 21 01

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