Die Analität des Bösen

Warum Reinigungsmittel in Deutschland reißenden Absatz finden, während Stasi-Akten im Reißwolf landen, und warum Arendt recht hatte mit der „schrecklichen Unschuld“  ■ Von Henryk M. Broder

Würde Hannah Arendt heute, im Jahr 1993, zu einem neuen „Besuch in Deutschland“ kommen und würde sie zufällig ihre Reise in Augsburg beginnen, fielen ihr sicher als erstes die Abfalleimer auf, die im Bahnhofsbereich angebracht sind: jeweils vier separate Behälter, in einem abfallphilosophisch differenzierten Arrangement: ein Behälter für Dosen, einer für Flaschen, einer für Papier und einer für „Restmüll“, was immer das sein mag. Die Frage, ob Reisende, die zu ihrem Zug eilen, nicht ein wenig überfordert sind, ihren Abfall im jeweils richtigen Behälter zu deponieren, diese praktische Frage würde der Überlegung vorausgehen, was denn geschähe, wenn ein Bürger seine leere Coladose versehentlich dem für Papier vorgesehenen Metalleimer anvertrauen würde: Gibt es einen Maßnahmenkatalog für solche Fälle? Wer überwacht den richtigen Gebrauch der kleinen Entsorgungsanlage und schreitet im Falle mißbräuchlicher Benutzung ein?

Es ist nicht auszuschließen, daß Hannah Arendt über diese Beobachtung ein wenig ins Grübeln und in eine Art Déjà vu käme; da war doch mal was, was war es nur? Hier ein Stapel Schuhe, da ein Berg Brillen, etwas weiter ein Haufen Haare. Sauber sortiert und zur weiteren Verwendung vorgesehen ...

Ein unfairer Vergleich, gemein und überzogen. Ein grober Verstoß gegen das Erste Gebot der Wissenschaft vom Holocaust – „Du sollst nicht vergleichen!“ –, eine Verharmlosung von Auschwitz und eine Dämonisierung der Augsburger Stadtreinigung. Dennoch ist der Vergleich richtig. Es kommt nicht auf die jeweilige Maßnahme an, sondern auf das Repertoire, den Einfallsreichtum der deutschen Analität, die immer wieder mit neuen Leistungen überrascht. Nicht zufällig ist Deutschland das Land mit dem höchsten Pro-Kopf-Verbrauch an Putzmitteln und der aggressivsten Werbung für dieselben, gehört die Forderung nach „politischer Hygiene“ zur politischen Rhetorik wie Bommerlunder zu Eisbein und „Sauberkeit“ – gleich nach Diskretion – zu den Eigenarten, die in den Kleinanzeigen der einschlägigen Magazine am häufigsten nachgefragt und zugesichert werden, auch dann, wenn Partner für Sado-Maso-Spiele und Natursekt-Duschen gesucht werden. Und eine deutsche Hausfrau, die nicht stolz darauf wäre, daß man von ihrem Küchenboden essen könnte, müßte erst noch geboren werden. Der „allgemeine Gefühlsmangel“, den Hannah Arendt 1950 erlebt hat, mag für den Wiederaufbau nach der großen Katastrophe nützlich gewesen sein, doch hat er einen seltsamen Zustand etabliert beziehungsweise verfestigt: Was den Deutschen an Emotionalität abgeht, das machen sie mit Reinlichkeit wieder wett. Mögen andere Völker Frauen wie Mata Hari und Cicciolina verehren, in Deutschland leisten Frau Caroline und die Tampax-Beraterin den entscheidenen Beitrag zur Sinnlichkeit des Alltags.

Man sollte meinen, daß ein Volk, das sich dermaßen begeistert dem Reinlichkeitswahn hingibt, einen ähnlich radikalen Umgang mit seiner Geschichte pflegen müßte, schon um sich vom Verwesungsgeruch, den die Leichen im Keller produzieren, den Geschmack des vakuumverpackten, garantiert frischegerösteten Morgenkaffees nicht verderben zu lassen. Doch das Gegenteil ist der Fall. Menschen, die sich ohne Schluck- und Kaubeschwerden während des Abendessens über die Wirkung von Deo-Rollern und Toilettenreinigern informieren lassen, drehen ihre Köpfe angewidert weg, wenn die Rede auf den Dreck kommt, der sich mit dem praktischen Wisch-und-weg-Tuch nicht beseitigen läßt.

Nur „sensationsgierige Medien“, schreibt das Neue Deutschland, würden der Lust frönen, „in den Exkrementen der Repression zu wühlen“, womit das Blatt die Akten der Gauck-Behörde meint. Die „wirklichen Opfer“ dagegen würden sich „in ihrer Mehrheit abgestoßen“ fühlen „von den Hexenjagden, die vor allem mit dem Namen Gauck verbunden sind“. Allein der Umstand, daß die unmittelbaren Erben der Täter sich kompetent fühlen, das Prädikat „wirkliche Opfer“ zu vergeben, weist auf ein Phänomen hin, das Karl Kraus mit den Worten „verfolgende Unschuld“ bezeichnet hat. Und wenn die Wühlarbeit in den „Exkrementen der Repression“ den Tatbestand der Hexenjagd erfüllt, dann ist der Versuch, mit der Hinterlassenschaft einer Diktatur auf dem Verwaltungswege fertig zu werden, kein Akt der Selbstreinigung, sondern eine Neuauflage der Inquisition. „Eine solche Flucht vor der Wirklichkeit ist natürlich auch eine Flucht vor der Verantwortung“, heißt es bei Hannah Arendt mit Blick auf die Deutschen nach 1945, die keine kausale Verbindung zwischen den Ursachen des letzten Krieges und den Taten des Naziregimes sehen mochten. Die gleiche Flucht vor der Wirklichkeit und vor der Verantwortung zeigt sich in dem Appell „Einheit durch Versöhnung“, den die CDU-Politiker Perschau, de Maizière und Diestel im Juli 93 an die deutsche Öffentlichkeit gerichtet haben. Es könne nicht weiter hingenommen werden, „daß unzähligen Menschen dauerhaft ein Vorwurf daraus gemacht wird, sich in dem System der DDR angepaßt und für die eigene Lebensplanung oder für die der Kinder Kompromisse geschlossen zu haben“, heißt es in dem Aufruf der drei, von denen zwei – Diestel und de Maizière – in ihrer eigenen Lebensplanung die Gültigkeit der Regel widerlegt haben, daß Ratten üblicherweise sinkende Schiffe zu verlassen pflegen. Beide betraten die Kommandobrücke, der eine als Innenminister, der andere als Ministerpräsident, als abzusehen war, daß der Dampfer DDR bald untergehen würde. Nun, nach der planmäßig durchgeführten Havarie, beklagen sie „ein Klima der Vergeltung ..., das die politische Kultur des Landes beschädigt und die Gegenwart belastet“, das Land würde in „Sieger und Besiegte“, in „Täter und Opfer“ zerfallen. Dabei wäre in der DDR keine saubere Trennung in „Unschuldslämmer und Bösewichte“ möglich gewesen, sagte de Maizière, der als Inoffizieller Mitarbeiter der Stasi gedient hatte, bevor er ganz offiziell letzter Ministerpräsident der DDR wurde, die Menschen hätten meist „im Mittelfeld gelebt“. Diese Menschen würden noch 1993 so behandelt, „als ob sie sich seit 1989 nicht verändert hätten“. – Die faktische Richtigkeit der letzten Behauptung steht außer Zweifel. Die IMs haben aufgehört, ihre Nachbarn zu denunzieren, die Grenzwachen haben aufgehört, auf Flüchtlinge zu schießen, die Menschenhändler haben aufgehört, Ausreisewillige zu verkaufen, die Betriebskampfgruppen haben aufgehört, ihre Betriebe gegen den Klassenfeind zu verteidigen, und die Angehörigen des ZKs und des Politbüros haben aufgehört, der Wirklichkeit Vorschriften zu machen. Kurzum: seit es die DDR nicht mehr gibt, haben sich die Menschen, die ihr vorher gedient haben, verändert. Lothar de Maizières Argumentation, die irgendwo „im Mittelfeld“ zwischen Sinn und Unsinn geschlummert haben muß, bevor er sie aktivierte, erinnert an die Ausführungen der Anwälte in vielen NS-Prozessen, die Angeklagten hätten sich nach 1945 nichts mehr zuschulden kommen lassen, sie wären voll resozialisiert, weswegen eine Bestrafung weder nötig noch richtig wäre. Auch dieser Vergleich ist maßlos, weil die DDR gemessen am Dritten Reich beinahe ein Rechtsstaat und Bautzen gemessen an Auschwitz ein Erholungscamp war, doch die logische beziehungsweise unlogische Struktur der Exkulpation ist die gleiche: Wo ein totalitäres System zusammenkracht und seinen Helfershelfern die Grundlage ihrer Tätigkeit entzogen wird, da meinen sie, allein der historisch bedingte Mangel an Gelegenheit, weiterzumachen, sei schon genug, von einer gelungenen Bekehrung zu sprechen. Wer dem widerspricht, betreibt „Hexenjagd“, produziert ein „Klima der Vergeltung“. Diese „schreckliche Unschuld, die sich in einen Verfolgungswahn verwandelt, sobald sie mit dem Urteil einer moralisch intakten Welt konfrontiert wird“ (Arendt), sorgt nicht nur für eine Umkehr der Begriffe, indem sie aus Tätern Opfer macht, sie stellt auch die Geschichte auf den Kopf. Das Ende einer Diktatur wird zu einem Eingriff in die Lebensplanung eines ganzen Volkes, die Möglichkeit, Verantwortung zu übernehmen, statt sich gängeln zu lassen, zu einer strapaziösen Zumutung. Nun würde sich entscheiden, schreibt das Neue Deutschland, „ob gegenüber Ostdeutschen weiter vergolten, verfolgt und vernichtet wird, oder aber DDR-Geschichte, Lebensleistungen und Biographien ihre Anerkennung finden.“ Dem Begehren steht ein technisches Hindernis entgegen: In den Kellern der Gauck-Behörde lagern über 17.000 Säcke mit zerrissenem Papier. Daß DDR-Geschichte, Lebensleistungen und Biographien heute nicht angemessen gewürdigt werden können, liegt vor allem daran, daß die nötigen Unterlagen rechtzeitig vernichtet wurden. Die Lust an der Entsorgung gilt in Deutschland der Geschichte ebenso wie dem gewöhnlichen Haushaltsmüll.

Wären die Klagen über man

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gelnde Anerkennung des Geleisteten auf das juste Milieu der Ex- DDR beschränkt, könnte man sie auch als den Beginn eines Lernprozesses begreifen, an dessen Ende die Erkenntnis stehen würde, daß jede Revolution, sogar eine friedliche, ihren Preis hat. Natürlich ist das Ende einer Karriere, die von der Staatspartei garantiert wurde, für den Betroffenen schmerzlich. Doch es sind nicht nur die Betroffenen, die sich zu Wort melden und eine Anerkennung ihrer Biographien fordern, was praktisch die Möglichkeit ihrer Fortsetzung heißt, auch Menschen, die nicht gezwungen waren, sich „im Mittelfeld“ zu arrangieren oder in einer Nische zu verstecken, die, wann immer sie wollten, jede Reise unternehmen, jeden Film sehen und jedes Buch lesen konnten, loben die menschlichen Qualitäten einer ständestaatlichen Ordnung. „Es gibt ein Menschenrecht auf unauffälliges Leben!“ ruft Günter Gaus aus und begründet dieses Recht mit einer Überlegung, die jede Geisterbahn in einen Hort der Geborgenheit verwandeln könnte: „Die Nische ist der normale Aufenthalt des gewöhnlichen Menschen in jedem politischen System! Und die Freiheit einer Ordnung ermißt sich für mich daran, ob sie den Leuten die Nische erlaubt...“ Die Gaussche Nischen-Philosophie findet ihre angemessene Fortsetzung in der Haltung des Literaturhistorikers Hans Mayer, der bis Hoyerswerda und Rostock „wirklich geglaubt“ hatte, „daß in der DDR mit all diesen unsinnigen Kursen und politischen Schulungen eine neue antifaschistische Realität entstehen könnte“, und der noch heute überzeugt ist, „daß der Versuch vieler gutwilliger Menschen, auf deutschem Boden eine alternative Gesellschaft zu errichten, deswegen hinfällig wurde, weil die DDR eine Kronkolonie der Sowjetunion war“. Auch ein so kluger Kopf wie Hans Mayer – Nationalpreisträger der DDR und zugleich Träger des Großen Bundesverdienstkreuzes mit Stern und Schulterband – eiert hilflos zwischen den Ruinen seiner Weltanschauung umher: der Marxismus war „eine der großen wissenschaftlichen Lehrmeinungen“ des Jahrhunderts, „nur der Marxismus-Leninismus war eine Fehlentwicklung“, die Marx selbst „gleich erkannt“ hätte. Ja, wenn der gute Karl aus Trier nur mal an einer Sitzung des ZK der SED hätte teilnehmen können, wäre aus der Kronkolonie der Sowjetunion vielleicht noch was geworden. Mayer, der von sich selbst sagt, er habe „immer auf der Seite der Besiegten gestanden, auf der Seite der Außenseiter ...“, fühlt sich „den Leuten in den sogenannten neuen Bundesländern tiefer verbunden als denen in der alten Bundesrepublik“. Diese Haltung wäre politisch sinnvoll und moralisch richtig gewesen, solange es die DDR noch gab. Doch die späte Verbundenheit gilt mehr dem untergegangenen System als den Menschen, die nun als die Besiegten dastehen. Mayer schafft es nicht, eine Diktatur Diktatur zu nennen und deren verdientes Ende eine Wende zum Besseren. Schließlich wäre es „doch eine Tatsache, daß wir damals eine großartige Alternative vor Augen hatten“.

Tief im deutschen Gemüt muß es irgendwo einen Schwellkörper geben, der, sobald er sich zur vollen Größe aufgerichtet hat, das Funktionieren der Sinne beeinträchtigt. Der Schwellkörper selbst reagiert auf Stimuli wie „Wissenschaft“, „Zukunft“, „Utopie“, „Alternative“, „kleineres Übel“. Wer immer sich darauf beruft, er habe vor 30 oder 40 Jahren eine Vision gehabt, die sich mehr oder weniger wissenschaftlich untermauern ließ, glaubt, sich um die Antwort auf die Frage drücken zu können, warum diese Vision so verführerisch war, worin also ihr Libido-Wert lag, und wie lange es gedauert habe, bis die Trübung der Sinne endlich nachließ. Es ist ziemlich ausgeschlossen, daß sich jemand von einer „wissenschaftlichen Idee“ faszinieren läßt. Wäre es so, müßten alle Physiker immerzu wie bekifft durch die Gegend laufen. Nicht die „Wissenschaftlichkeit“ kreiert das Faszinosum, sondern der Wunsch nach „Ordnung“, der sich in der Idee niederschlägt, und die Übersichtlichkeit, die sich aus der Idee ergibt. Und Ordnung kann als Synonym für Sauberkeit genommen werden. Was der Hausfrau das ajaxgescheuerte Badezimmer, das ist dem Kopfarbeiter die „wissenschaftliche Lehrmeinung“. Ein irritierender Schmutzfleck hier wie dort führt zur selben Reaktion: es wird entweder sofort nachpoliert, der Status quo ante hergestellt, oder, falls das nicht möglich ist, der Verursacher der Verschmutzung zur Strecke gebracht. So werden Kinder zu Blitzableitern, Weggefährten zu Dissidenten.

„Die Verwandlung der Realität in bloße Möglichkeit“, von der Hannah Arendt spricht, tritt auch in der überaus beliebten Spekulation zutage, was denn wäre, wenn nicht die DDR, sondern die Bundesrepublik untergegangen wäre, wenn also die Vereinigung zu einem VEB Deutschland geführt hätte. Diese Überlegung ist schon deswegen so anmutig, weil sie die Frage, woran die DDR eigentlich untergegangen ist, umgeht und statt dessen die Beliebigkeit zum Prinzip erhebt. Der Filmregisseur Peter Lilienthal versucht, die Bedeutung der Stasi-Spitzel, die vornehm Inoffizielle Mitarbeiter genannt wurden, dadurch zu relativieren, daß er sich und andere Kulturschaffende als „inoffizielle Botschafter“ bezeichnet, die „auf Kuba waren ... und mit Castro gesprochen haben“. Außerdem sehen Schuldige und Unschuldige von einem historischen Aussichtsturm betrachtet gleich groß aus: „Keiner von uns hat sich in diesem Jahrhundert großartig benommen, unsere Großväter erst recht nicht, auch meine jüdischen nicht. Die haben immer aufs falsche Pferd gesetzt.“ Das ist die definitive Widerlegung der Lüge vom alttestamentarischen Rachegeist. Peter Lilienthal nimmt es den Herrenreitern nicht übel, daß ihnen der Weg in den Schlachthof erspart blieb, während seine Großeltern, die aufs falsche Pferd gesetzt hatten, genau dahin befördert wurden. Was solls? Es hätte auch andersrum kommen können. Ähnlich generös ist auch George Tabori, der auf die Frage, was ihn am Verrat faszinieren würde, antwortet: „Verrat ist nichts Außergewöhnliches ... Jeder Kompromiß ist nichts anderes als Verrat. Jeder. Wir verraten am Tag tausend Dinge, und wir verraten Menschen. Wir alle! Wir sind pausenlos mit Verrat beschäftigt.“ So schrumpft der Unterschied zwischen einem IM, der seinen Nachbarn bei der Stasi denunziert und ins Gefängnis gebracht hatte, und einem Menschen, der sich wider bessere Einsicht nicht zum Ernteeinsatz auf Kuba gemeldet hat, auf das Maß eines Windeis zusammen, das man von Inszenierung zu Inszenierung im philosophischen Handgepäck mit sich herumtragen und bei Bedarf auspacken kann. Ähnlich treibt es auch die „theologische Schriftstellerin“ Dorothee Sölle, wenn sie sich um eine Antwort auf die Frage bemüht, „woher die Gewalt“ kommt, „vom Kindergarten bis zur S-Bahn, vom Einkaufszentrum bis zum Sportplatz“. Woher kommt sie nur? Aus der Ecke, in der die Braunsche Röhre brummt: „Wir haben zwar keine Diktatur mehr und keinen Unrechtsstaat, aber einen neuen totalitären Apparat, der ungleich feiner und wirksamer herrscht und manipuliert, als Fahnenappelle, Propaganda und Kommandowirtschaft es jemals konnten: Das Fernsehen ...“ Es handelt sich nicht um einen Mißgriff in das Arsenal der Kulturkritik, sondern um eine theologische Erkenntnis: Ein totalitärer Apparat wurde durch einen anderen ersetzt, an die Stelle von NSDAP sind ARDZDFRTL getreten, die Tagesschau ruft zum Fahnenappell, im Musikantenstadl tritt Karl Moik gegen Joseph Goebbels auf und die Gebühreneinzugszentrale übernimmt die Aufgaben der Kommandowirtschaft, nur eben feiner und wirksamer.

Hinter solchen Sätzen steckt nicht die Verachtung für totalitäre Apparate, sondern der Ruf nach einem. Es möge endlich einer kommen und die Flut, die das Fernsehen in die Wohnzimmer spült, stoppen. Es möge einer sagen, was wir sehen dürfen und was nicht, es sollen wieder saubere Zustände herrschen. Dorothee Sölles Kompetenz, die Ursachen der Gewalt aufzuspüren, zeigt sich auch in der „ökonomischen Erklärung“, die sie anbietet: „Es sind Arbeits- und Ausbildungslose, die der Gewalt wie dem Alkohol verfallen.“ Langsam wird der Platz im Tempel der ewigen Weisheiten knapp. Zu der Warnung vor Onanie als Ursache von Rückenmarkschwindsucht und der bekannten Tatsache, daß Frauen nicht autofahren können, kommt nun eine dritte fundamentale Weisheit hinzu: Wer arbeitslos wird, zündet Ausländer an. Der israelische Historiker Zvi Yavetz wundert sich über den zwingenden Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung. „Wenn die Menschen in England arbeitslos werden, gehen sie fischen. Wenn sie in Deutschland arbeitslos werden, gehen sie zu den Nazis.“ Doch Dorothee Sölle hält es offenbar für ein Naturgesetz, daß Arbeitslosigkeit Nazis produziert, eine Art Axiom, das weder belegt noch begründet werden muß. Die „Unfähigkeit und der Widerwille, zwischen Tatsache und Meinung zu unterscheiden“ (Arendt), produzieren in Deutschland die seltsamsten Blüten. Es handelt sich nicht um Mißverständnisse aufgrund fehlender Informationen, denn die liegen reichlich vor. Man weiß zum Beispiel inzwischen, daß die große Mehrzahl der Jugendlichen, die an Pogromen gegen Ausländer teilgenommen haben, weder arbeits- noch ausbildungslos waren, daß es „diffuse Gefühle und Vorstellungen einer generellen Bedrohung“ waren, die sich in Gewalt Erleichterung verschafften. Es handelt sich vielmehr um eine Art Allergie vor der Wirklichkeit, wie sie auf beispielhafte Weise Harald Juhnke zum Ausdruck bringt, wenn er über sich selbst sagt: „Ich war eigentlich nie Alkoholiker, ich habe nur gesoffen ...“ Was im Einzelfall witzig, geradezu originell erscheinen mag, gewinnt eine gefährliche Dimension, wenn es zum Topos erhoben wird. Der Erste Weltkrieg ging durch Verrat verloren, Hitler kam an die Macht, weil er den Arbeitslosen Brot und Arbeit versprochen hatte, die Endlösung der Judenfrage war eine Reaktion auf die Verbrechen Stalins, die DDR war dem Antifaschismus verpflichtet, arbeitslose Jugendliche können nicht anders, als Ausländer zu verhauen. Werden auf diese Art Meinungen in den Rang von Tatsachen erhoben, so äußert sich ein anderer Aspekt der „deutschen Realitätsflucht in der Haltung, mit Tatsachen so umzugehen, als handele es sich um bloße Meinungen.“ In München wurde ein führender Neonazi freigesprochen, der öffentlich die Massenvernichtung von Juden im Dritten Reich geleugnet hatte. Solche Zweifel am Holocaust wären „zulässig“, sagte der Richter zur Begründung des Freispruchs. In Osnabrück kam es gar nicht erst zu einem Verfahren wegen Volksverhetzung gegen einen prominenten Dominikaner-Pater, der behauptet hatte, Juden und Polen wären „die größten Ausbeuter des deutschen Steuerzahlers“. Bei einer Protestkundgebung gegen die Schließung des Schiller Theaters in Berlin sagte die Schauspielerin Steffi Spira, sie fühle sich an die Situation von 1931 erinnert, meinte August Everding: „Wo Kultur wegbricht, wird Platz frei für Gewalt“, sprachen andere von einem „kulturellen Supergau“, einem „Akt der Barbarei“.

Die Verwandlung von Meinungen in Tatsachen und die Überführung von Tatsachen in Meinungen ist nicht Zeichen einer besonders streitfreudigen Gesellschaft, sondern Produkt eines „nihilistischen Relativismus“ (Arendt) gegenüber der Wirklichkeit. Und sobald die Deutschen mit Gewalt auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt werden, also nach dem Ende des Dritten Reiches wie nach der Auflösung der DDR, wird hektische Geschäftigkeit „zu ihrer Hauptwaffe bei der Abwehr der Wirklichkeit“. Es hat über 20 Jahre gedauert, bis nach 1945 eine Auseinandersetzung mit dem Dritten Reich einsetzte, es wird wahrscheinlich noch länger dauern, bis eine Auseinandersetzung mit der DDR richtig in Gang kommt, das heißt, der erste Arbeiter-und-Bauernstaat nicht als eine sowjetische Kronkolonie, sondern als Produkt deutscher Analität begriffen wird. Was machen beispielsweise all die Menschen, die in der DDR für Ordnung sorgten? Womit vertreiben sie sich die Zeit, bis sie wieder gebraucht werden? Ein paar ehemalige Stasi-Aktivisten haben Wach- und Schließgesellschaften aufgemacht, ein ehemaliger Kirchensekretär wurde Ministerpräsident und ist fest entschlossen, den Job zu behalten, obwohl man ihn mit gerichtlichem Segen einen „Stasi-Spitzel, der nach der Wende in der Politik Karriere macht“ nennen darf, einen „Sekretär der Macht, egal, wer gerade dran ist“. Und was macht die große Mehrheit in Ost und West, die „im Mittelfeld“ gelebt hat, die über die politische Wende zur Tagesordnung übergegangen ist, als wäre es nur ein Tapetenwechsel gewesen, wie wird sie mit ihrem „allgemeinen Gefühlsmangel“ fertig, den sie „mit billiger Rührseligkeit kaschiert“, unterstützt von Nischen- Philosophen, die ihre Vorstellungen von Ordnung als Menschenrecht auf unauffälliges Leben präsentieren? – Die Mehrheit macht das, was sie in vergleichbaren Situationen immer gemacht hat – sie putzt. Je mehr die allegorischen Leichen im Keller stinken, um so toller müssen die Fliesen im Bad glänzen. Der Abfallwirtschaft gehört die Zukunft, und die vielen bunten Container für Weißglas, Grünglas, Braunglas, Papier und Plastik tragen wesentlich zur Verschönerung der Städte bei. Würde Hannah Arendt im Jahr 1993 zu einem Besuch nach Deutschland kommen, würde ihr schlagartig klar, daß nicht die Parole „Arbeit macht frei“ das deutsche Wesen verkörpert, sondern ein eher (b)anales Sprichwort: „Außen hui, innen pfui.“

Hannah Arendt: „Besuch in Deutschland“, 104 Seiten, brosch., etwa 19,80 DM

Wir drucken disen Text mit freundlicher Genehmigung des Rotbuch-Verlages. Er ist das Vorwort eines Buches, das dieser Tage dort erscheint.