Die Ost-Schwulen und die Deutsche Einheit – dem Coming-out nach der Wende folgte der Trennungsboom. Der Westler liebt unverkrampfter, aber auch einsamer; Fetische und Kondome kommen ins Spiel; Freunde hat man noch immer im Osten. Ein Streifzug durch die Ostberliner Szene vier Jahre danach Von Lutz Ehrlich

Der Westler liebt anders

Der Tresen ist so lang, daß er irgendwo ganz hinten im Unendlichen zu verlaufen scheint, ein Tresen wie ein überdimensioniertes Sprungbrett. Dafür ist der Raum noch schmaler als ein Handtuch, aber die Gäste machen sich dünn. Die neue In-Bar im Prenzlauer Berg trägt absolutes West-Outfit, nicht hastig aus den Versatzstücken des vermeintlichen Welt-Niveaus zusammengeschustert, sondern sorgfältig ausgewählt: Man ist im Westen angekommen, zumindest auf den ersten Blick.

Einer der Gäste ist Anfang 20 und hört gar nicht hin. Was sich für ihn verändert hat? – Die Wende hat es überhaupt erst möglich gemacht, daß er schwul geworden ist, weil er davor andere moralische Vorstellungen hatte, die ließen solche Gedanken gar nicht erst aufkommen: Eine Karriere bei den Jungen Pionieren oder in der FDJ. Jetzt ist er Geschäftsmann, auch wenn er nicht so aussieht. Eigentlich wollte er seinen Laden, eine schwule Sauna, zum Republikfeiertag am 7. Oktober eröffnen, jetzt dauert es doch noch einen Monat länger. Als der Kellner auf seiner Rennbahn hinterm Tresen vorbeikommt, gibt es Küßchen: Man kennt sich, und auf den zweiten Blick ist es hier doch anders als in einer Bar im Westen: Niemand sucht eine Bühne, statt dessen versucht man sich mit seinem erlernten Sozialverhalten in der neuen Einrichtung zurechtzufinden – und das hieß Nähe.

Jede Menge gibt es davon in einem Hinterhof-Club in Mitte: „Fanta 1 DM“ steht groß auf einem Schild über dem Tresen. Unten im Keller ist zweimal die Woche Disco für Schwule. Und Lesben, die sich deutlich in der Minderheit befinden, weshalb sie turnusmäßig eine feministische Palast-Revolte anzetteln. Gemeinsamkeit stellt das Bier von hier dar, ansonsten mischen sich sehr unterschiedliche Gruppierungen: Der Hausbesetzer im Fummel steht neben dem Studenten im H&M-Chic.

„Die alten Läden sind ja alle weg“, beschwert sich Wolfgang, der gerade sein Abitur nachmacht. Die legendäre „Buschallee“, zum Beispiel, ein Mehrzweckgebäude draußen in Weißensee, in dem sich seit Anfang der achtziger Jahre alles traf. Mittlerweile ist die „Busche“ privatisiert, zweimal umgezogen und heute eine Diskothek wie in der Provinz. Oder das „Café Größenwahn“ am Alex, das eins der ersten Opfer der neuen Immobilienpreise wurde. Und in die Läden, die sich schlecht und recht über die Wende gerettet haben, geht man nicht mehr, weil man dort den Eindruck bekommt, als sei das gesamte Publikum einmal ausgewechselt worden.

Nicht daß früher alles besser gewesen wäre, meint Wolfgang, aber es ging früher los. Um neun Uhr war man in der Kneipe, um Mitternacht war meistens alles schon vorbei. Danach ging man nach Hause – zu sich oder zu anderen. „Heirat war in der DDR eher erwünscht als heute“, erinnert sich Wolfgang, „Man saß insgesamt viel näher aufeinander.“

Trennungsboom

Tatsächlich haben viele der Beziehungen aus DDR-Tagen die Wende nicht überstanden. Der Trend geht auch hier eindeutig zum Single, und das gar nicht mal wegen des Westangebots, im Gegenteil. Den Westen hat man mal ausprobiert, aber ansonsten wenig damit zu tun: „Klar hat man seine Erfahrungen gemacht“, erinnert sich Wolfgang, wie er kurz nach der Maueröffnung mal in Marienfelde gelandet ist. Da hat er festgestellt, daß der Westler anders liebt, unverkrampfter eben. Das ist aber nicht der Grund dafür, daß er seit zwei Jahren mit einem Westler befreundet ist. „Ach ja, und Kondome, die benutzt man heute häufiger. Aber ansonsten hat sich für mich als Schwuler nicht mehr verändert als für andere auch.“

Vor 23 Uhr trifft man noch niemand draußen. „Ist doch komisch“, bemerkt Wolfgang, „obwohl sich seit der Wende das schwule Leben viel mehr in die Öffentlichkeit verlagert hat, sind andererseits viel mehr Leute alleine.“

Aber auch für die Lonely Hearts wird gesorgt, im Prenzlauer Berg allemal: Alle paar Monate lädt dort eine neue schwule Kneipe zur Eröffnungsparty. Das Original heißt aber „Stiller Don“ und ist mittlerweile wegen seines ostigen, aber herzlichen Charmes auch für Westler zum Begriff geworden. Klaus kommt sogar aus Spandau angereist, weil es hier nicht so oberflächlich wie im Westen zugeht: „Vielleicht bin ich ja etwas provinziell – oder verklemmt?“ Der Kneipenboden ist mit Erdnußschalen übersät, an den Tischen redet, wer's mag, jeder mit jedem.

„Mit dem Paragraphen, das hat sich verändert“, sagt einer und löst damit eine heillose Verwirrung aus. „Ich denke, der ist längst abgeschafft“, befremdet sich der nächste, und Klarheit ist in dieser Angelegenheit nicht zu schaffen: Welcher Paragraph für wen gilt, interessiert heute abend hier niemanden: „Also, wenn ein Ostler mit einem Westler, dann kommt es ja immer noch drauf an, wo – oder wie?“ – „Wie auch immer, Beziehungen hat man jedenfalls eher mit Westlern, ist doch klar, weil da der Reiz des Neuen zählt“, weiß Günther aus Erfahrung.

Sex mit Fetisch

Seine letzten Beziehungen stammten alle aus dem Westen, „aber die Freunde hat man hier“. Und ist der Sex mit Westlern besser? – „Anders. Westler haben viel eher bestimmte Vorlieben oder Fetische, während der Ostler über eine größere sexuelle Bandbreite verfügt.“ Er knackt sich noch eine Erdnuß, um dann weiterzuziehen – vielleicht noch ein bißchen tanzen, nachts um halb drei, das wäre in der DDR kaum möglich gewesen.

Der aktuelle Schwerpunkt der Existenzgründer im Prenzlauer Berg liegt derzeit rund um den Wasserturm. Die Kneipendichte liegt hier mittlerweile auf dem Niveau des Savignyplatzes im Westteil der Stadt. „Sehen ja alle gleich aus“, wundert sich Matthias und weiß gar nicht, welche nun die schwule Kneipe sein soll. Dann erkennt er in einer Andreas am Tresen, die muß es sein. Im neuen Ost- West-Kneipen-Einheits-Look mit den gespachtelten gelben Wänden sowie abgeschliffenen Türen und Böden fällt beiden sofort ein, was sich für sie geändert hat: „Endlich gibt es auch bei uns diese ganzen Hilfsmittel: „Dildos, Videos. Und bessere Gleitcreme.“ – „Welche nimmst du denn?“ Und schon sind die beiden in eine lebhaften Diskussion über das Für und Wider von Markenprodukten verstrickt, von der Zahncreme bis zur Unterhose: „Das hat uns der Westen gebracht.“ Und damit sind sie sogar dem Westen überlegen, denn sie benutzen die Produkte zwar, halten aber ideologische Distanz. „Osten ist ja wieder angesagt“, sagt Andreas, „und nicht nur beim Waschmittel. Der neueste Trend ist ja wieder die Zweisamkeit. Nur gut, daß ich meinen Freund noch habe.“ – Und was wäre, wenn nicht? Nicht der Freund, sondern wenn die Wende nicht gewesen wäre? – „Dann säß' ich jetzt hier genauso, sähe vielleicht etwas anders aus, aber grundsätzlich ...?“