■ Gewerkschaften zwischen Tradition und Modernisierung
: Im Spagat

Das Ausmaß, in dem gegenwärtig die politische Praxis und die sozialen Deutungsmuster der Gewerkschaften in Frage gestellt werden, ist ohne historische Parallelen. Die „dritte industrielle Revolution“ und der tiefgreifende soziale und politische Wandel stellen heroische Anforderungen an die Lernfähigkeit gewerkschaftlicher Organisationen.

Die innergewerkschaftliche Verarbeitung dieses Umbruchs läßt sich als Konflikt zwischen „Traditionalisten“ und „Modernisierern“ darstellen.

Selbstverständlich gibt diese Polarisierung nur ein stilisiertes Bild der innergewerkschaftlichen Diskussion wieder. Erst bei den globalen politischen Optionen kommt es zum Schwur: Traditionalisten halten grundsätzlich an der Vorstellung und Hoffnung einer Transformation kapitalistischer Gesellschaftsordnung fest, auch wenn diese kaum noch Eingang in die politische Tagespraxis findet; Modernisierer wollen dagegen die soziale demokratische und ökologische Frage auf dem Boden des – wenn auch sozial regulierten – Kapitalismus lösen.

Wichtigste Referenzgruppe der Traditionalisten sind die Arbeitnehmer des traditionellen (aber auch traditionslosen) Arbeitermilieus, die Arbeiter der alten Industrien und die Beschäftigten der unteren Lohngruppen im öffentlichen und Dienstleistungssektor. Häufig handelt es sich bei diesen um loyale, teilweise um „geborene“ Gewerkschafter mit starker normativer Bindung an die Organisation.

Die Modernisierer haben die modernen und qualifizierten Arbeitnehmer der neuen Industrien und der modernisierten Sektoren der Massenfertigung sowie der dynamischen Dienstleistungsbereiche als Zielgruppen; diese sind ohne besondere Ansprache und „selektive Anreize“ gewerkschaftlich schwierig zu organisieren.

Das Dilemma der Traditionalisten besteht darin, daß sie sich auf Arbeitnehmergruppen stützen, die in der Vergangenheit das Rückgrat und die Kampfkraft der Gewerkschaften bildeten, aber nun von der quantitativen Schrumpfung und dem sozialen Abstieg bedroht sind. Für die Modernisierer liegt das Dilemma darin, daß sie sich zwar auf expandierende Arbeitnehmergruppen beziehen, die aber den Gewerkschaften distanziert gegenüberstehen.

Gleichsam antizipatorisch müssen die Modernisierer eine Interessenpolitik für Gruppen entwickeln, die sie erst noch für die Gewerkschaft gewinnen müssen.

Noch sind die Modernisierer weitgehend „Generäle ohne Truppen“. Obwohl die Arbeiter gegenüber den Angestellten mittlerweile in der Minderzahl sind (1990 gab es in der alten Bundesrepublik knapp 13 Millonen Angestellte und 11 Millionen Arbeiter), stellen sie immer noch rund zwei Drittel der Mitglieder im Deutschen Gewerkschaftsbund.

Die Gewerkschaftsstruktur zu Anfang der neunziger Jahre ähnelt noch stark der Berufsstruktur zu Anfang der fünfziger Jahre.

Es sind die gewerblichen Kerngruppen, an denen die Traditionalisten ihre Politik orientieren. Die anwachsenden Gruppen von Arbeitnehmern in prekären Beschäftigungsverhältnissen dienen den Traditionalisten eher als Menetekel in ihren Krisen- und Verelendungsszenarien denn als Organisationsreserve. Die Modernisierer betonen demgegenüber, daß die Gewerkschaften nur dann eine Zukunft haben, wenn sie sich verstärkt um neue, bislang schwierig zu organisierende Arbeitnehmergruppen, vor allem die Angestellten, bemühen.

Die modernen Arbeitnehmer und neuen Angestelltenschichten sind keine „geborenen Gewerkschafter“. Die Gewerkschaften werden von ihnen als relativ stabile gesellschaftliche Institutionen wahrgenommen, die auch ohne sie funktionieren – etwa so wie das Arbeitsamt oder die Krankenkasse. Über die Art und Weise, wie die modernen Arbeitnehmer für die Gewerkschaften zu gewinnen seien, haben Traditionalisten und Modernisierer unterschiedliche Vorstellungen. Die Traditionalisten haben für dieses Problem eine eher klassische Lösung parat: Sie erwarten im Zuge der „marktradikalen Modernisierung“ eine Rückkehr zur alten sozialen Frage, das heißt: Auftreten sozialer Verschlechterungen sowie vermehrte Angriffe auf Sozialstaat und Tarifautonomie; dadurch – so ihr Kalkül – würden schließlich auch diese Arbeitnehmergruppen soziale Nachteile erfahren, die ihren Protest hervorrufen – die Gewerkschaften brauchten dann nur noch das Protestpotential aufzugreifen und zu bündeln.

Die Modernisierer hingegen wollen den Tendenzen zum gesellschaftlichen Wertewandel, zur Individualisierung und Selbstverwirklichung Rechnung tragen und fordern von den Gewerkschaften, daß sie sich zur „Diskursorganisation“ mit einer neuen „Beteiligungskultur“ fortentwickeln. Sie plädieren darüber hinaus für die Ausweitung der gewerkschaftlichen Aufgaben und Ziele auf Fragen der Ökologie und der Kultur.

Den Gewerkschaften wird derzeit ein schwieriger Spagat zwischen defensiver Schutzpolitik und offensiver Gestaltungspolitik abverlangt. Als eine Gestaltungspolitik eigener Art ist die Industriepolitik zu verstehen, die nunmehr von den großen Gewerkschaften im Kontext der Erhaltung industrieller Kerne in den neuen Bundesländern und der langfristigen Sicherung des Industriestandortes Deutschland diskutiert und teilweise praktiziert wird.

Gewerkschaftliche Industriepolitik ist zu einem Projekt der Modernisierer geworden. Sie verfolgen damit primär die langfristige Sicherung von Industriestandorten und damit von Arbeitsplätzen unter sozial- und umweltverträglichen Kriterien, aber gleichwohl im Rahmen privat- und marktwirtschaftlicher Ordnung.

Da Industriepolitik real nur gemeinsam mit den Unternehmen umgesetzt werden kann, verträgt sie sich nicht mit einer gesellschaftspolitischen Transformationsperspektive, an der die IG Metall – zumindest programmatisch – lange festgehalten hat. Unter dieser Prämisse kann die Industriepolitik schwerlich eine Option der Traditionalisten sein; denn ihr politischer Anspruch ist die Gesellschaftsveränderung.

Die Gewerkschaften befinden sich derzeit zweifellos in einer schwierigen Lage. Einerseits nötigen ihnen die gegenwärtige Rezession, der verschärfte Wettbewerb um Produktionsstandorte und die allfälligen Kürzungen von Sozialleistungen erhöhte Anstrengungen im Rahmen defensiver Schutzpolitik ab. Um so mehr gilt dies, wenn die Arbeitgeber nunmehr selbst die bislang bewährte Politik der Flächentarifverträge zu unterlaufen drohen. Andererseits eröffnen die unternehmerischen Strategien der Produktionsmodernisierung und die Konzepte eines „partizipativen Managements“ Handlungsfelder für Positivsummenspiele, die den Gewerkschaften – wollen sie sie nutzen – flexible und innovative „Einsätze“ im Rahmen offensiver Gestaltungspolitik abverlangen.

Ohne Zukunftsperspektive sind Vorstellungen der Traditionalisten, die auf eine Re-Ideologisierung der Gewerkschaften als sozialreformerische Kampforganisation mit gesellschaftsveränderndem Impetus abzielen. Erfahrungen aus den neuen Bundesländern lehren, daß selbst unter den schwierigsten wirtschaftlichen Bedingungen das alte Interpretationsschema „Lohnarbeit versus Kapital“ nicht greift, sondern daß sich dort die Betriebsräte, unterstützt und beraten von Gewerkschaften, gemeinsam mit dem Management um kooperative Lösungen für das wirtschaftliche Überleben, die Sicherung von „Restarbeitsplätzen“ und die Herstellung unternehmerischer Wettbewerbsfähigkeit bemühen.

Aber auch dieses Modell steht derzeit auf dem Prüfstand. Das Verhältnis zwischen Gewerkschaften und Betriebsrat muß neu justiert werden, und auch die Arbeitgeberverbände sind gefordert, ihr Verhältnis zu den Mitgliedsunternehmen neu zu definieren. Zukunftschancen sehe ich in einer innovativen Konfliktpartnerschaft. Darin würde zum einen der gestiegenen Bedeutung der Betriebsräte für dezentrale Regelungen Rechnung getragen und zum anderen eine engere Kooperation und Vernetzung zwischen betrieblicher und gewerkschaftlicher Interessenvertretung erfolgen. Es wäre dies eine Arbeitsteilung, die es dem Betriebsrat erlaubt, in Kooperation mit aktiv beteiligten Arbeitnehmern gegenüber dem Management die Rolle eines kritischen Co-Managements einzunehmen und mit diesem nach kooperativen Problemlösungen zu suchen.

Um diese Rolle auszufüllen, bedürfen die Betriebsräte freilich der aktiven und kompetenten Unterstützung durch die Gewerkschaften. Denn töricht wäre es, zu erwarten, daß die Beziehungen zwischen Kapital und Arbeit sich konfliktfrei gestalten ließen. Aber während die Industrie- und Betriebspolitik mehr nach dem Modell von Problemlösungen betrieben werden könnte, bliebe für die gewerkschaftliche Tarifpolitik unabdingbar, daß insbesondere Grundsatzfragen und Fragen der sozialen Gerechtigkeit auch mit dem Mittel des Arbeitskampfes zu entscheiden wären.

Nur wenn die deutschen Gewerkschaften beide Momente – Konflikt und Partnerschaft – in ihrer organisatorischen und politischen Bedeutung aufnehmen und damit einen Beitrag zur Modernisierung leisten – nur dann brauchte die Zukunft der Gewerkschaften nicht mehr mit einem großen Fragezeichen versehen zu werden. Walther Müller-Jentsch

Stark gekürzter Vorabdruck aus: Wolfgang

Kowalsky/Wolfgang Schroeder (Hrsg.),

Linke, was nun? Rotbuch 1993, erscheint

Ende Oktober