Jelzins Gegner im offenen Aufstand

■ Bewaffnete Oppositionelle besetzen das Moskauer Rathaus und das Fernsehzentrum / Tote bei schweren Kämpfen / Aufruf zum Sturm auf den Kreml / Jelzin verhängt den Ausnahmezustand

Moskau (taz) – Ein friedliches Ende des Moskauer Machtkampfes wird es nicht geben: Nachdem gestern mittag an die zehntausend Gegner Boris Jelzins die Barrikaden vor dem Parlamentsgebäude gestürmt und das Rathaus besetzt hatten, verhängte der russische Präsident über die Hauptstadt den Ausnahmezustand, der bis zum 10. Oktober in Kraft bleiben soll. Nun wollen er und die Regierung „mit Gewalt“ die „Ordnung“ in der Stadt wiederherstellen. Am Abend schickte Jelzin zwei Panzerkolonnen in Richtung Stadtzentrum.

Zuvor war es der bewaffneten Opposition gelungen, in das Gebäude des Fernsehturms in Ostankino einzudringen. Dabei sollen mehrere Menschen ums Leben gekommen sein. Der erste und vierte Kanal, die von hier ausgestrahlt werden, stellten ihre Sendungen ein und forderten die Mitarbeiter auf, das Gebäude zu verlassen. Das russische Fernsehen sendete aus einem Behelfsstudio weiter. Nach Angaben des Senders lieferten sich Sicherheitskräfte und Demonstranten im Erdgeschoß des Fernsehturms und in mehreren Studios heftige Gefechte. Dabei sollen auch Raketengranaten gegen das Gebäude abgefeuert worden sein. Kurz darauf stellte der dritte Fernsehkanal seine Übertragung ein. Auch die Zentrale der Nachrichtenagentur ITAR-Tass wurde am Abend von Aufständischen besetzt, ohne daß Gegenwehr geleistet wurde. Vor dem Gebäude des Moskauer Stadtsowjets zogen unterdessen etwa tausend Demonstranten auf. Vizepräsident Jegor Gaidar hatte im Fernsehen an die Bevölkerung Rußlands appelliert, sich dort zu versammeln.

Die Lage war bereits am Samstag eskaliert, als bei Straßenkämpfen nach offiziellen Angaben 24 Polizisten und fünf Jelzin-Gegner verletzt worden waren. Am Sonntag mittag waren nach einer Kundgebung auf dem Oktoberplatz rund 5.000 Jelzin-Gegner über die Ring-Straße zum Weißen Haus marschiert. Auf ihrem Weg durchbrachen sie einen Kordon von Polizisten. Wohl überrascht, daß sich an diesem sonnigen Herbsttag so viele Sympathisanten der Altkommunisten um „Gegenpräsident“ Alexander Ruzkoi scharten, kam der Befehl, unter Schlagstock- und Tränengaseinsatz die Demonstration unter allen Umständen aufzulösen.

Ob dieser Befehl von Präsident Boris Jelzin persönlich stammt, ist unklar. Seine Gegner verstanden ihn jedoch zu nutzen. Als der Polizeieinsatz begann, zeigte sich Ruzkoi persönlich auf dem Balkon des Parlaments und erklärte den offenen Kampf gegen Jelzin. Die Aktion der Polizei, so Ruzkoi, zeige, was Jelzin im Schilde führe, er wolle den Machtkampf „diktatorisch für sich entscheiden“. Um dies zu verhindern, werde man zur Gegenwehr greifen. Parlamentspräsident Ruslan Chasbulatow rief zum Sturm auf den Kreml auf.

Die Anhänger der Altkommunisten verstanden das Fanal: Sie zogen los und hatten am Sonntag abend das Fernsehzentrum erreicht. Kolonnen von Truppenfahrzeugen mit uniformierten Aufständischen fuhren den ganzen Nachmittag in den Norden Moskaus. Vor dem Gebäude gab es nur wenige Angehörige der Jelzin- treuen Sicherheitskräfte. Die Moskauer Polizei wurde von den Ereignissen so überrascht, daß ihr keine Gegenwehr gelang. Mehrere tausend Soldaten sollen zudem die Seiten gewechselt haben. Korrespondentenberichten zufolge haben sich auch Angehörige der Dscherschinski-Division an dem Sturm auf den Fernsehturm beteiligt. In Militärkreisen hieß es, diese Eliteeinheit stehe nicht mehr geschlossen hinter Jelzin. khd/ger

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