Nachgelesen
: Der „Stückezertrümmerer“

■ „Theater des Augenblicks. Die Theaterarbeit Frank Castorfs“

Bislang war Frank Castorf mit Interviews nicht geizig, und die Nachfrage ist groß. Zumal die Kritiker seine Volksbühne am Berliner Rosa-Luxemburg-Platz jüngst zum Theater des Jahres stemmten. Etwas gequält reibt sich mancher Talk-Moderator an dem listigen Theaterintendanten, und einigen geht bereits die Puste aus, noch bevor sie ein hilfloses „Sie gelten ja als Stückezertrümmerer“ plazieren.

Was heute fast vergessen ist: Castorf setzte sein Theaterkonzept ja nicht erst mit der Volksbühne durch; zu Beginn der achtziger Jahre stand der Widerstand der DDR-Mächtigen und die Verbannung in die tiefste Provinz. Auf dem beschwerlichen Karriereweg brachte er es doch noch zu Auslandsreisen und ans Deutsche Theater in Ostberlin – viel mehr war für Theaterleute in der DDR auch nicht drin.

Unzufrieden zurückgelassen, ahnte der eine oder andere nach all den Kulturtainment-Interviews, daß Frank Castorf mehr sein muß als ein Suppenkasper, der zur Belustigung der Übersatten mal in den Teller spuckt. Wie aber kann man sich dem Castorfschen Phänomen nähern?

Das Berliner Zentrum für Theaterdokumentation hat eine pralle Materialsammlung mit dem Titel „Die Theaterarbeit Frank Castorfs“ verlegt. Siegfried Wilzopolski ist der Herausgeber, ein Dramaturgen-Gefährte des Regisseurs. Angefangen mit den Produktionen im Theater Anklam sind bis „Hermes in der Stadt“ am Deutschen Theater 22 Inszenierungen dokumentiert. Zu lesen sind Rezensionen von den west- und ostdeutschen Kritikern Höbel, Iden, Bernd Sucher, Friedrich Dieckmann, Axel Geiß und von diversen namenlosen Bild-Autoren.

Gerade bei den westdeutschen Edelfedern zeigt sich zu Beginn eine gelangweilte „Kenn ich doch schon alles“-Haltung, die sich mit zunehmendem Ruhm und Erfolg des Regisseurs in ernsthafte Auseinandersetzung auf ästhetischem und konzeptionellem Gebiet wandelte. Neben den theaterwissenschaftlichen Aufsätzen sind vor allem die Protokolle vom Eklat in Anklam aufschlußreich, der mit der Verhaftung des Hauptdarstellers aus heiterem Himmel begann und mit einem Aufführungsverbot endete. Freunde und Kollegen waren extra zur Generalprobe angereist, und der Intendant ließ den Saal räumen. Selbst aus dem Tonraum wurden Neugierige im Polizeiklammergriff herausbugsiert.

Manche Kritiken zeigen erst Jahre später, welchen Wert sie haben. So ist es amüsant zu verfolgen, wie Peter Iden von der Frankfurter Rundschau bei den „Räubern“ im dunkeln tappt. O- Ton Iden: „Interessant ist der Fall nur in Hinsicht auf den offenbaren Mangel an jeder Reflexion und Übersicht in der Intendanz der Volksbühne. Um auf der Berliner Theaterszene nicht unterzugehen, hat man einzig dem Kriterium der Augenfälligkeit vertraut. Für eine Begründung der Notwendigkeit, diese Bühne zu erhalten, ist damit jedoch nichts geleistet. Vielmehr war die Disposition ein schwerer Fehler: An den selbstgefällig grimassierenden Spektakeln von Castorf, der vom Betrieb so rasch hochgespült wurde wie er darin wieder, wenn er sich nicht verwandeln kann, verschwinden wird, besteht keinerlei Bedarf.“

Selten aufkeimenden Humor zeigt der Publizist Friedrich Dieckmann in seiner luziden Besprechung von „John Gabriel Borkmann“ in den Kammerspielen des Deutschen Theaters: „Kein Wunder, daß die DDR zugrunde ging, wenige Monate, nachdem Castorf das erste Mal in ihrer Hauptstadt Theater gemacht hatte... Die Kunst als Tagtraum der Sprengung.“

Ausgiebig zu Wort kommt natürlich Frank Castorf selbst, der in der DDR-Zeitschrift Theater der Zeit vom latent vorhandenen Rassismus sprach, von den Initialzündungen in seiner Theaterlaufbahn, vom Blues und Rock 'n' Roll. Mittlerweile betrachtet sich Castorf als Theaterintendant in der Rolle eines Fürsten, und nicht nur die FAZ findet das gut so. Fernando Offermann

Siegfried Wilzopolski: „Theater des Augenblicks. Die Theaterarbeit Frank Castorfs“. Zentrum für Theaterdokumentation Berlin, 1992, 24,80 DM