500 Meter Luftlinie zum Zentralkomitee

■ Das Kabarett "Die Distel" wurde am vergangenen Sonnabend 40 Jahre alt / Von insgesamt 85 Programmen wurden zwei verboten / Kritisierte Parteifunktionäre standen "morgens auf der Matte"

„Ich denke Genossen, mit der Monotonie des ,Yeah, yeah, yeah‘ und wie das alles heißt, ja, sollte man doch Schluß machen. Und wenn in der Berliner ,Distel‘ gesagt wird, daß der und der noch da ist, womit ich gemeint war, brauchen sie sich nicht wundern, wenn eines Tages ein Gewitter niedergeht... Sie dürfen doch nicht denken, daß wir uns weiter als Partei- und Arbeiterfunktionäre von jedem beliebigen Schreiber anspucken lassen!“ Bravorufe, Beifall, „Sehr richtig“-Rufe – Originalton Walter Ulbricht und bittere Realsatire vom berüchtigten „Kulturplenum“ des SED-Zentralkomitees im Dezember 1965, dem auch zahlreiche DEFA-Filme zum Opfer fielen.

Als das Kabarett „Die Distel“ am Bahnhof Friedrichstraße am vergangenen Sonnabend seinen 40. Geburtstag feierte („Völker hört das Finale!“), gehörte diese bösartige Attacke des allmächtigen SED-Chefs Walter Ulbricht zu der Dokumentation über 85 Programme, von denen zwei verboten wurden (eines 1988 unter dem Berliner SED-Chef Günter Schabowski). Dabei zählte Ulbricht immerhin noch zu den Besuchern der „Distel“, im Gegensatz zu seinem Nachfolger Erich Honecker. Wilhelm Pieck dagegen ließ sie lieber nach Hohenschönhausen kommen. Dafür war Stasi-General Wolfgang Schwanitz nahezu Stammgast. Und am schwarzen Brett hing die Anweisung des Kabarett-Direktors: „Der Genuß von Alkohol und das Improvisieren ist untersagt.“

„Was ist für das Kabarett im Sozialismus tabu, was darf der Satire, dem Lachen nicht preisgegeben werden, wenn man Partei und Staat nicht schaden will“, war die Hauptsorge der SED-Funktionäre, wie sie in einer „Information“ der Berliner Parteileitung an das SED-Zentralkomitee formuliert wurde. Überhaupt: „Kommt der Sozialismus nicht besser ohne Kabarett aus?“ Immer wieder gab es Bestrebungen in der SED, von der Satire weg zu mehr „Unterhaltung“ im Kabarett zu kommen, wie es in manchen „Spitzengesprächen“ beim SED-Chefideologen Kurt Hager gefordert wurde.

Auf alle Fälle hatte es die „Distel“ mit „500 Meter Luftlinie“ zum SED-Zentralkomitee schwerer als Kabaretts im Süden der Republik. So standen nach einem abendlichen Satz wie „Die DDR braucht mal eine längere Mittagspause“ die Parteifunktionäre „morgens auf der Matte“, wie sich Dramaturg Heinz Lyschik erinnert. Für Autor und Schauspieler Peter Ensikat war es 1983 der Grund, von der „Distel“ wegzugehen (seit 1990 ist er mit der neuen Chefin Gisela Oechelhäuser als Nachfolgerin von Otto Stark wieder dabei in der nun verkleinerten, privatisierten Mannschaft).

Er ging auch, weil er meinte, daß die Kollegen ihren Spielraum nicht genügend ausnutzten. „Ich wollte die Hofnarretei nicht mehr mitmachen“, meint er heute rückblickend. Für ihn waren die Leipziger „Pfeffermühle“ in den 70er und die Dresdner „Herkuleskeule“ in den 80er Jahren die „schärferen“ DDR-Kabaretts. Ensikats neueste „Nachrichten aus der neuen Ostprovinz“ stehen als Buch gerade auf einer Ost-Bestsellerliste.

„Als Autor stand ich zwischen Baum und Borke“, räumt Lyschik ein. Am gefährlichsten seien die Voraufführungen und Premieren mit den „Wachhunden“ der Partei gewesen, später ließ das offizielle Interesse nach. „Oft hing es auch von der Laune des Parteifunktionärs ab. Ein persönlicher Referent zum Beispiel fand es in Ordnung, wenn sein Chef bei uns angepinkelt wurde.“ Es gab auch den Trick der „Distel“-Mannschaft, eine Pointe extra für die Parteikontrolleure einzubauen, an der sie sich „festbeißen“ sollten, um die anderen zu übersehen, was oft gelungen sei.

Und noch etwas ist gelungen, was im Gründungsbeschluß des Ostberliner Magistrats 1953 stand: Die „Distel“ soll „mit Mitteln der Satire auf dem Gebiet der darstellenden Kunst wertvolle Arbeit für die Einheit Deutschlands“ leisten. Dichtende Mithelfer waren neben Ensikat und Stark unter anderem auch Peter Hacks, Peter Sodann, Rudi Strahl, Gerd E. Schäfer, Heinz Kahlau, Fritz Erpenbeck und Heinz Draehn. Zum 30. Geburtstag der „Distel“ mußten die Namen Wolf Biermann, Günter Kunert, Jurek Becker und Erich Loest aus dem Programmheft wieder entfernt werden, weil, wie die „Distel“ im jüngsten anmerkt, „sie sich aus der DDR entfernt hatten“. Wilfried Mommert (dpa)