Abdićs Taktierereien eröffneten eine neue Front

■ In der Region von Bihać in Westbosnien schießen Muslime auf Muslime / Ein Korridor für die Serben / Die UNO will eine Vermittlungsdelegation entsenden

Wien (taz) – „Macht mir das erst einmal nach“, brüllte der kleine untersetzte Mann seine Parteifreunde an, „wo ich herrsche, da fällt kein Schuß, da hungert niemand, da leben die Menschen alle friedlich zusammen, da gibt es keinen Krieg.“ Der abtrünnige muslimische Politiker Fikret Abdić, der eine „Autonome Region Westbosnien“ ausgerufen hatte, versuchte noch einmal, seine Politik zu verteidigen, seinen Standpunkt vor 300 geladenen Gästen vorzutragen – doch ohne Erfolg.

Auf dem sogenannten „Bosnien-Kongreß“ verschiedener muslimischer Organisationen vor zwei Wochen in Sarajevo beschlossen die Delegierten mehrheitlich, Abdić aus ihren Reihen hinauszuwerfen, und verboten ihm, weiterhin in ihrem Namen Politik zu machen. Sein ehemaliger Busenfreund und heutiger Präsident Bosniens, Alija Izetbegović, ging sogar so weit und beschuldigte Fikret Abdić des „Verrats am gerechten Kampf für ein freies Bosnien“. Dem Verdammten blieb nur noch die Heimreise ins zweihundert Kilometer entfernte Bihać, der einzigen Region Bosniens, die bisher vom Krieg verschont geblieben war. Dort wurde er wie ein Volksheld empfangen, seine Anhänger jubelten: „Fikret, wir sind auf deiner Seite, Alija ist der Verräter“ – gemeint war Izetbegović.

Doch wie konnte es zu diesem Bruderzwist unter den Muslimen überhaupt kommen? Wie wurden zwei alte Freunde plötzlich zu Feinden? „Es war der Krieg“, gesteht Abdić ein, „wir sehen doch täglich, wie Nachbarn und Freunde plötzlich aufeinander schießen – und Alija macht bei diesem dreckigen Spiel mit.“ Was der Konzernchef des einst größten jugoslawischen Lebensmittelkonzerns dabei aber verschweigt, ist die Tatsache, daß Izetbegović in Sarajevo gar keine andere Wahl hatte, Bosnien- Herzegowina mit Waffengewalt zu verteidigen, als zuerst die Serben und dann die Kroaten dem den Krieg erklärten. Während in der bosnischen Hauptstadt seit 18 Monaten geschossen wird, blieb es in der Bihać-Enklave bisher ruhig. Doch die Gründe dafür sind nicht bei einer besonnenen Verhandlungstaktik Abdićs zu suchen, wie er vorgibt, sondern allein in der Kriegslogik der Serben, die die Enklave bereits seit zwei Jahren eingekesselt halten, aber dennoch keinen direkten Angriff auf die Region selbst führen.

Das hat Belgrad auch nicht nötig. Bihać liegt zwischen der von Serben okkupierten kroatischen Region Krajina und der sogenannten „Serbischen Republik von Banja Luka“. Alle Wege nach Bihać führen über serbisches Territorium – die etwa 300.000 Muslime sitzen auch ohne Würgegriff in der Falle und können jederzeit ausgehungert werden. Das ist im Augenblick aber nicht notwendig, denn die Serben bekamen von Abdić, was sie brauchen: einen Korridor von Banja Luka über Bihać in die Krajina. Dieser Nachschubweg ist lebenswichtig, um Munition und schwere Waffen in die besetzten Gebiete Kroatiens schleusen zu können.

Geschäftsmann Abdić wußte das von Anfang an, aber er war sich auch stets bewußt, daß er sich der serbischen Übermacht militärisch nie zur Wehr hätte setzen können. So ließ er die Serben eben gewähren, die auch die Muslime in Bihać in Ruhe ließen. Aus dieser Erfahrung zog Abdić dann den Schluß: Wenn man den Serben entgegenkommt, dann kann man mit ihnen auch über alles weitere verhandeln, ohne daß es gleich zu kriegerischen Auseinandersetzungen kommt.

Anders als die politische Führung in Sarajevo ging nun der Bihaćer Lebensmittelfachmann, der sich schon im kommunistischen Jugoslawien als gewiefter Taktiker des Agrokomerc-Unternehmens einen Namen gemacht hatte, davon aus, daß der Friede in Sicht sei, wenn die Muslime den derzeitigen Status quo auf dem Schlachtfeld akzeptieren. Hinter Izetbegovićs Rücken verhandelte er deshalb im geheimen einen eigenen Friedensplan für Bosnien aus – für die Sarajevoer Führung ein Grund, Abdić kaltzustellen. Doch der Verfemte gab sich nicht geschlagen. Er meldete sich kurzerhand über kroatische und serbische Medien zu Wort und handelte sich damit erst recht die Kritik ein, ein abgekartetes Spiel mit den Todfeinden zu treiben. Seither schießen in der Region Bihać Muslime auf Muslime. Um den „Verräter“ Abdić nämlich auszuschalten, ordnete Izetbegović in seiner Eigenschaft als Oberkommandierender der bosnischen Armee die Soldaten von Bihać an, gegen Abdić zu putschen – eine wahnwitzige Order. Auf beiden Seiten gab es Tote und Verletzte, bis sich Abdić persönlich vor den Streithähnen zeigte. Er verhandelte mit dem Izetbegović-treuen Kommandeur und erreichte am Dienstag, daß dessen Leute, etwa 3.000 Mann, zu ihm überliefen. Nun will die UNO in Zagreb eine Delegation nach Bihać schicken, um die Verhandlungen zwischen Abtrünnigen und Regierungstreuen voranzutreiben. Karl Gersuny