Wie sie wurde, was sie ist

■ Die Berliner Humboldt-Universität zwischen Erneuerung und Regression

Am Anfang stand keine Revolution. Nicht an den Hochschulen und Universitäten im ersten Arbeiter-und-Bauern-Staat auf deutschem Boden. Noch bis in die letzten Tage der DDR hinein hatte sich an der Humboldt-Universität zu Berlin kaum etwas geändert. FDJ und Kampfgruppen hatten ihre Tätigkeit zwar eingestellt, aber am Personal sollte nicht gerüttelt werden. So etwa im Falle der Sektion für Marxismus/Leninismus (Biermann), die sich eine Tarnfarbe zugelegt hatte und sich nun „Politische Wissenschaft“ nannte.

Neu war dagegen ein Mythos: Das Programm einer Erneuerung mit eigenen Kräften, die Reform mit den eigenen Leuten einte für kurze Zeit alle, die um ihren Arbeitsplatz Angst hatten, die sich vor den vermeintlich rüden Praktiken des Westens vorsehen wollten, und schließlich die schlicht den Einigungsvertrag nicht wahrhaben wollten. Aus ganz unterschiedlichen Interessenlagen bündelte sich die Klientel des Heinrich Fink, des Rächers der Enterbten, der als Theologe für diese Aufgabe prädestiniert schien.

Die Berliner Journalistin Mechthild Küpper nahm an vielen Sitzungen des Akademischen Senates der Humboldt-Universität teil und unterscheidet sich schon durch ihre intime Sach- und Personenkenntnis von allerlei politischen Direktivengebern im linken Blätterwald. Die Zusammenfassung ihrer bisherigen Berichterstattung fängt viel Atmosphärisches aus den Monaten des Umbruchs, der Stagnation und der Erneuerung ein. Ihr etwas unsystematisches Buch bietet einige strukturelle Einsichten, mehr aber wertvolle Einblicke in die Milieus der selbsternannten Reformer, der Universitätsverwaltung und der Wissenschaftspolitiker. Stark aus dem persönlichen Kontakt heraus geschrieben, glänzt ihr Buch durch anschauliche Detailschilderungen.

Die Ursachen für das Scheitern einer Reform von innen liegen indessen tiefer: „Entscheidungsschwäche, Demokratieschwäche. Der Selbstreform fehlt das Rückgrat.“ Die Selbstreformer pochten auf das neue Recht der Hochschulautonomie, dem jedoch keine Erneuerung an Haupt und Gliedern folgte, sondern endlose, widersprüchliche und unkoordinierte Gremienarbeit. „Der Legitimationszwang, unter dem sich die Linden-Universität insgesamt befand, wurde an die Verantwortlichen in den Fächern weitergereicht.“ Dort ruhte er sanft. Die Reform wurde faktisch vertagt. Dem stand der politische Wille des Berliner Senates zur Erneuerung entgegen, der nicht weniger – was oft vergessen wird – demokratisch legitimiert war. Im Kampf zwischen Autonomie und Fremdbestimmung unter dem Rektorat Fink blieb die Utopie der Selbsterneuerung auf der Strecke und offenbarte nur ihr wahres Gesicht: das bare Selbsterhaltungsinteresse der alten Kader, das im westdeutschen Hochschul- und Arbeitsrecht seine besten Instrumente fand. Die Zeichen standen also auf Sturm. Projektionsflächen und Feindbilder gab es zuhauf: den Teilabwicklungsbeschluß, den Golfkrieg und die Absetzung von Rektor Fink.

Die Erneuerung wurde der Linden-Universität dennoch abgenötigt. Nach dem juristischen Schiffbruch des Teilabwicklungsbeschlusses für die Fächer Rechtswissenschaft, Wirtschafts-, Erziehungs- und Geschichtswissenschaft sowie Philosophie im Juni 1991 schaffen die mittels eines Ergänzungsgesetzes eingerichteten Struktur- und Berufungskommissionen Remedur. Dies geschah nicht immer sehr einfühlsam gegenüber den Betroffenen. Die Alternativen hierzu hatten sich indessen im Gestrüpp von Desinformation, Unwilligkeit und Unfähigkeit aufgezehrt. Auch das verbreitete Argument, nur die ideologischen geistes- und gesellschaftswissenschaftlichen Fächer müßten reformiert werden, ließ sich nicht halten. Die politische Belastung der Naturwissenschaften – freilich nicht aus ideologischen, sondern sehr materialistischen Gründen – entzog der Verkürzung der Diskussion auf Fächer wie Geschichte die Grundlage. Dafür wurde ein neuer Mythos geboren, der des Kolonisators. „Die Rede von der Kolonisation lenkt eher vom Problem ab. Denn die wenigen, die Jakobiner hätten sein können, versäumten die logische Sekunde jeder Revolution.“

Indessen verweigerten sich auch die neuen Kommissionen einem Dilemma, das bis heute der Lösung harrt: der Rehabilitierung der tatsächlich Enterbten im Bildungssystem der DDR. Die Geschurigelten vor der Wende bekamen bis heute keine Wiedergutmachung. Mechthild Küpper fordert einen unbürokratischen Rehabilitationsfonds, der jedem Amtsträger zusteht, um denen schnell eine Chance zu geben, die vor 1989 wegen politischer Gründe aus der Universität gedrängt wurden. Sie sieht bei der Erneuerung der Humboldt-Universität daher neben dem Verfahren auch die Gerechtigkeit auf der Strecke geblieben.

Das Dilemma liegt vielleicht noch tiefer: in der Wertladung der Wissenschaft im Erneuerungsprozeß. Man erstrebte allzuviel und allerlei Wahrheit und bekam – die Wissenschaft. Siegfried Weichlein

Mechthild Küpper: „Die Humboldt-Universität. Abwicklung und Selbstreform“. Rotbuch, 144 Seiten, broschiert, 14,90 DM

Der Autor ist wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl Neuere und Neueste Geschichte an der Humboldt-Universität.